Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, hat am 8. Juli 2023 der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass US-Präsident Joe Biden trotz Bedenken und nach langem Zögern entschieden habe, die Ukraine durch Lieferung von Streumunition zu unterstützen. Die US-Regierung sei sich des Risikos bewusst, dass Zivilisten durch nicht explodierende Munition zu Schaden kommen. Es bestehe jedoch auch ein großes Risiko, wenn russisches Militär weiteres ukrainisches Staatsgebiet erobere und ukrainische Zivilisten unterwerfe. Zur Verteidigung brauche die Ukraine dringend weitere Artilleriemunition. Biden selbst betonte, der Schritt sei mit dem US-Kongress und den Verbündeten abgesprochen.

Streumunition ist durch das am 1.8.2010 in Kraft getretene Übereinkommen zum Verbot von Streumunition von zahlreichen Staaten völkerrechtlich geächtet. Dieser völkerrechtliche Vertrag hat inzwischen 111 Mitgliedsstaaten. Weitere 13 haben unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Die hauptsächlichen Erzeuger- und Verwender-Nationen USA, Russland, China und Israel gehören dem Vertragswerk nicht an. Die Ukraine zählt ebenfalls zu der Gruppe der Staaten, die diesem Übereinkommen nicht beigetreten ist. Weil eine einheitliche Staatenpraxis und auch die übereinstimmende Rechtsüberzeugung der Staaten fehlen, ist derzeit ausgeschlossen, dass das Übereinkommen zum Verbot von Streubomben zum Völkergewohnheitsrecht und damit für alle Staaten verbindlich geworden ist. Die Lieferung der Streumunition durch die USA in die Ukraine verstößt daher nicht gegen das Übereinkommen zum Verbot von Streumunition.

Trotzdem bleibt der Einsatz von Streumunition weiterhin sehr problematisch. In dem Gutachten vom 8.7.1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) unter Ziffer 95 festgestellt, dass nach den Prinzipien und Regeln des für den bewaffneten Konflikt verbindlichen humanitären Völkerrechts Methoden und Mittel der Kriegsführung verboten sind, die jede Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen ausschließen. Unter Ziffer 78 beschreibt der IGH dieses Prinzip als eins der „kardinalen Prinzipien“ des humanitären Völkerrechts, wonach Staaten „niemals Waffen einsetzen dürfen, die nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheiden können.“ Das ist aber bei der Streumunition der Fall, weil sie einerseits beim Einsatz streut – also nicht präzise eingesetzt werden kann – und andererseits ein Teil der Submunition nicht explodiert, und somit zu Landminen wird, die nach Ende der Kampfhandlungen jahrelang eine erhebliche Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen. Diese Eigenschaften von Streumunition machen deren Einsatz in der Regel unverhältnismäßig.

Wenn die Bundesregierung – wie die Erklärung von US-Präsident Biden vermuten lässt – der Lieferung der Streumunition ausdrücklich zugestimmt hat, hätte Deutschland als Mitgliedsstaat gegen seine Staatenverpflichtung aus dem Übereinkommen zum Verbot von Streumunition verstoßen. Denn mit Art. 1 Abs. 1c des Übereinkommens hat sich Deutschland verpflichtet niemanden beim Transport oder Einsatz von Streubomben zu unterstützen. In der Zustimmung könnte nicht nur eine verbotene Unterstützung der USA, sondern auch die innerstaatlich strafbare Förderung der Lieferung nach §§ 18a, 20a des Kriegswaffenkontrollgesetzes (KWKG) liegen.

Schwerwiegender ist, wenn der Transport der Streumunition aus den USA über deutsches Staatsgebiet erfolgt. Das ist höchstwahrscheinlich der Fall, weil es sowohl beim Seetransport als auch auf dem Luftweg der kürzeste Weg wäre. In diesen Fällen könnten die USA die Streumunition nicht ohne ausdrückliche Zustimmung der Bundesregierung transportieren. Für ihre Transport-Flugzeuge benötigte sie Überfluggenehmigungen Deutschlands, für Zwischenlandungen auf US-Stützpunkten in Deutschland Lande- und Starterlaubnis. Diese Erlaubnis darf die Bundesregierung nicht erteilen, weil Deutschland sonst gegen seine Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zum Verbot der Streumunition verstoßen würde. Werden die Genehmigungen erteilt, sind die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, weil nach §§ 18a, 20a KWKG die Durchführung der Streumunition durch das Bundesgebiet strafrechtlich verboten ist.

Die Verbote nach dem humanitären Völkerrecht, nach dem Übereinkommen zum Verbot der Streumunition und nach §§ 18a, 20a KWKG verlieren ihre rechtliche Verbindlichkeit nicht durch den Verteidigungsstatus der Ukraine als völkerrechtwidrig angegriffener Staat. Der IGH hat in seinem Gutachten festgestellt, dass das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta eingeschränkt ist, „welche Mittel der Gewalt auch eingesetzt werden“. Verteidigen dürfen sich Staaten nur mit Waffen, welche die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts erfüllen (Ziff. 42). Die Verteidigung mit unterschiedslos auch gegen Zivilisten wirkende Waffen ist wegen Verstoßes gegen das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem humanitären Völkerrecht rechtswidrig. Somit verstoßen sowohl das angreifende Russland als auch die sich verteidigende Ukraine durch den Einsatz von Streumunition gegen das Völkerrecht.

Deutschland ist durch Art. 21 Abs. 2 des Übereinkommens zum Verbot von Streumunition verpflichtet, die Normen, die darin niedergelegt sind, zu fördern und sich nach besten Kräften zu bemühen, „Staaten, die nicht Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind, vom Einsatz von Streumunition abzubringen.“ Das bedeutet, dass die Bundesregierung völkerrechtlich verpflichtet ist, den USA bei der Lieferung und der Ukraine beim Einsatz von Streumunition „in den Arm zu fallen“.

 

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