Kritik der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Organklage der Bundestagsfraktion DIE LINKE gegen die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag vom 17. September 2019 – 2 BvE 2/16 – von Bernd Hahnfeld
Die Entscheidung betrifft den Antrag der Fraktion DIE LINKE festzustellen, dass die Bundesregierung und der Bundestag durch die Beteiligung der Bundeswehr an dem Einsatz gegen den IS in Irak und in Syrien die Rechte des Bundestags verletzt haben. Das BVerfG hat den Antrag verworfen. Es hat damit leider erneut in der unseligen Tradition entschieden, in Fragen der Sicherheit und Verteidigung der Bundesregierung keine rechtlichen Grenzen aufzuerlegen.
Für die politische Praxis bedeutsam ist die Feststellung des BVerfGs, dass sich aus dem Grundgesetz kein eigenes Recht des Deutschen Bundestags auf Unterlassen verfassungswidrigen Handelns der Bundesregierung ergibt. Das Organstreitverfahren dient nicht der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Verhaltens der Exekutive. Jedoch ist ein rechtserhebliches Handeln der Bundesregierung ohne vorgeschriebene gesetzliche Ermächtigung laut BVerfG im Organstreit rügefähig.
Nicht gefolgt werden kann der Entscheidung, soweit diese im Zusammenhang mit dem Kampfeinsatz der Bundeswehr in Syrien und im Irak eine Verletzung von Gesetzgebungsrechten des Bundestages als „von vornherein ausgeschlossen“ ansieht.
Auszugehen ist mit dem BVerfG davon, dass die Einordnung Deutschlands in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit nach Art. 24 Abs.2 in Verbindung mit Art. 59 Abs.2 Satz 1 Grundgesetz (GG) der Zustimmung des Deutschen Bundestags bedarf. Dieser Gesetzesvorbehalt schützt die Kompetenz des Bundestags und überträgt ihm ein Mitentscheidungsrecht. Die politische und rechtliche Verantwortung des Bundestags erstreckt sich dabei nach dem BVerfG auch auf den weiteren Vertragsvollzug, also die Durchführung des Gesetzes.
Wiederholt betont das BVerfG aber den „weit bemessenen Spielraum“ der Bundesregierung beim Handeln im Bereich der auswärtigen Politik. So sei es auch Sache der Bundesregierung, die Fortentwicklung eines Vertrages zu gestalten. Sie dürfe lediglich das „vertragliche Integrationsprogramm“ nicht verlassen – ohne dass der Bundestag sein Mitwirkungsrecht ausübt. Die Frage, ob die Entscheidung der Bundesregierung und des Bundestags zum Bundeswehreinsatz in Syrien und im Irak innerhalt des Rahmens einer solchen Fortentwicklung bleibt, bejaht das BVerfG. Dabei scheint das BVerfG in nicht nachvollziehbarer Weise davon auszugehen, dass die Europäische Union (EU) gemäß Art. 42 Abs.7 EU-Vertrag bereits ein gegenseitiges kollektives Sicherheitssystem im Sinne von Art. 24 Abs.2 GG ist – oder jedenfalls nahe daran! Im Lissabon-Urteil vom 30. 6. 2009 hat das BVerfG noch entschieden, der Ratifikationsvorbehalt verdeutliche, dass der Schritt der Europäischen Union zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit durch die geltende Fassung des Primärrechts und durch die Rechtslage nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch nicht gegangen wird (Randnummer 390). Das BVerfG geht von der Notwendigkeit eines entsprechenden Beschlusses der Mitgliedsländer aus. Diesen gibt es nicht.
Das BVerfG verweigert der Fraktion DIE LINKE eine faire Interpretation ihres Antrags, die Verletzung der Rechte des Bundestags aus Art. 24 Abs.2 in Verbindung mit Art. 59 Abs.2 Satz 1 GG durch die Entscheidung zum Bundeswehreinsatz gegen den IS in Syrien und im Irak festzustellen. Die Fraktion DIE LINKE hatte vorgetragen, dass Bundesregierung und Bundestag nicht im Rahmen von Art. 24 Abs.2 GG tätig geworden seien. Das BVerfG weigert sich darin die konkludente Behauptung der Überschreitung oder Fortentwicklung des Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zu erkennen. In dem Vortrag der Antragstellerin liegt jedoch unausgesprochen die Behauptung der Notwendigkeit eines neuen Vertrages, weil der Rahmen des bestehenden (Art. 24 Abs.2 i.V. mit Art. 59 Abs.2 Satz1 GG) verlassen worden sei. Ein neuer Vertrag wäre nicht ohne eine Entscheidung des Bundestags möglich.
Auch das BVerfG meint, der Bundestag könne im Organstreitverfahren ein bedeutsames Interesse daran haben, feststellen zu lassen, dass die Fortentwicklung eines Vertrages über die Grundlagen eines Systems kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs.2 GG die Grenzen überschreitet. Ähnlich wie in der umstrittenen Entscheidung zur Einordnung der NATO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit hat das BVerfG vorliegend vor allem auf das Gebot der Friedenswahrung als zwingenden Bestandteil der Vertragsgrundlage eines derartigen Systems abgestellt. Dieses Zauberwort wird streitentscheidend, losgelöst von der damit unvereinbaren Praxis, die gar nicht geprüft wird.
Voreingenommen wirkt die Feststellung des BVerfGs, die vertretbare Interpretation von Rechten und Pflichten in einem System nach Art. 24 Abs. 2 GG und das (politische) Handeln in einem solchen System sei Aufgabe der Bundesregierung und bewege sich regelmäßig innerhalb des Ermächtigungsrahmens. Tatsächlich sind die militärischen Kriegseinsätze und die Beihilfen dazu zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien oder im Irak-Krieg der „Koalition der Willigen“, die ohne Notwehrlage und ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats erfolgt sind, deutliche Überschreitungen des verfassungsrechtlichen Ermächtigungsrahmens.
Zu einer Nothilfe für Frankreich im Rahmen von Art.51 UN-Charta war die Bundesregierung nicht legitimiert, weil nach Abschluss der Attentate in Paris weder eine Verteidigungslage vorlag noch der Sicherheitsrat zu einem militärischen Einsatz nach Art. 42 (Kapitel VII) der UN-Charta ermächtigt hatte. Das BVerfG irrt, wenn es behauptet, die Resolution 2249 (2015) des Sicherheitsrats sei eine ausreichende Grundlage für einen militärischen Einsatz. Richtig ist zwar, dass der Sicherheitsrat mit den Resolution 2170 (2014) vom 15. August 2014 und Resolution 2199 (2015) vom 12. Februar 2015 sowie mit der Resolution 2249 (2015) vom 20. November 2015 und Folgeresolutionen wiederholt festgestellt hat, dass von der Terrororganisation IS eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit ausgeht. Eine derartige Feststellung nach Art. 39 UN-Charta ist Voraussetzung für friedliche (Art. 41) oder militärische (Art. 42) Sanktionsmaßnahmen. Tatsache ist jedoch, dass der Sicherheitsrat in seinen Resolutionen immer dann ausdrücklich zu militärischen Maßnahmen ermächtigt hat, wenn er das für erforderlich hielt. In allen anderen Fällen hat er zwar die Feststellung nach Art. 39 UN-Charta getroffen, aber nur zu allen notwendigen Maßnahmen ermächtigt. Diese sind vielfältig und beispielhaft in Art. 41 UN-Charta beschrieben. In der Resolution 2249 (2015) kommt das Wort militärisch gar nicht vor!
Die Resolution 2249 (2015) des Sicherheitsrats ist daher keine ausreichende Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr.
Mit der Sicherheitsrat-Resolution ist den Staaten zudem die Berufung auf das Notwehrrecht in Art. 51 UN-Charta verwehrt. Auch das BVerfG weist darauf hin, dass nach Art 51 Notwehr und Nothilfe nur zulässig sind, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Diese hat er getroffen, allerdings anders als die Kriegsführenden sich das gewünscht haben.
Zwar ist die ganz herrschende Meinung in der Völkerrechtsliteratur, dass Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta auch gegen nichtstaatliche Akteure zulässig sein soll, wenn der Drittstaat allenfalls noch eingeschränkt Staatsgewalt in den Gebieten seines Staatsgebietes ausübt, von denen die Angriffshandlungen ausgehen. Das BVerfG setzt sich jedoch nicht damit auseinander, dass die syrische Regierung wiederholt die Verletzung seiner Souveränität und eine völkerrechtliche Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts geltend gemacht hat. Bei der Bewertung des militärischen Einsatzes Frankreichs, Deutschlands u.a. in Syrien wäre zu berücksichtigen gewesen, dass Syrien die Aktivitäten des IS auf seinem Staatsgebiet nicht widerstandslos hingenommen hat, sondern ebenfalls im militärischen Kampf gegen den IS stand.
Nicht gefolgt werden kann dem BVerfG bei der Feststellung, dass ein Streitkräfteeinsatz auf der Grundlage der Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag verfassungsrechtlich dem Grunde nach jedenfalls nicht ausgeschlossen ist. Der Wortlaut der Bestimmung postuliert lediglich eine allgemeine Beistandspflicht und verweist auf Art. 51 UN-Charta. Die EU-Mitgliedsstaaten schulden dem angegriffenen Staat „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“. Das ist alles andere als eine klare Aufforderung zu militärischer Hilfe. Das auch im Völkerrecht geltende Gebot der Normenklarheit erfordert die Bezeichnung „militärischer Beistand“, wenn der auch gemeint ist. Das zeigt der Vertrag der WEU, der in Art V klar ausspricht, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs in Europa die Mitgliedsstaaten „alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe leisten“.
Aus der Tatsache, dass die EU ein friedenssicherndes Regelwerk, eine eigene Organisation, einen Status völkerrechtlicher Verbundenheit und eine wechselseitige Verpflichtung zur Wahrung des Friedens hat, ist noch keineswegs zu folgern, dass die Mitgliedsstaaten sich zu einem gegenseitigen kollektiven System gemeinsamer Sicherheit verbunden haben. Zum einen fehlt das notwendige Merkmal der Möglichkeit der gerichtlichen Streitschlichtung in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, weil laut Art. 24 Abs.1 Satz 2 EU-Vertrag Beschlüsse im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht vor dem Gerichtshof der EU angefochten werden können. Zum anderen regelt Art. 42 Abs. 7 Satz 2 und 3 EU-Vertrag, dass die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der NATO vorbehalten bleiben soll.