Stellungnahme des VDW-Vorstands vom 21. Juni 2018

1. Der Anlass

In Bottrop ist der Fall einer spezialisierten Apotheke, die Krebsmedikamente (Zytostatika) zubereitete und vertrieb, ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden. Strafrechtlich zur Anklage gebracht wurde der Vorwurf, ca. 60. 000 Krebsarzneien mit zu wenig oder ohne Wirkstoff hergestellt und vertrieben zu haben. Träfe dieser Vorwurf zu, so wäre eine Vielzahl von Schwererkrankten gefährdet bzw. auch geschädigt worden. Die Krankenkassen wären um 56 Millionen Euro betrogen worden, da sie in dieser Höhe Leistungen bezahlt haben, die nicht erbracht worden sind. Es gibt weitere Vorwürfe, die von den beiden Whistleblowern Martin Porwoll und Maria-Elisabeth Klein zu diesem Falle artikuliert wurden, die aber nicht in der strafrechtlichen Ermittlung zur Anklage gebracht worden sind – eine aus prozessökonomischen Motiven übliche Kappung der Vorgehensweise im Strafrecht. Man hat somit den Irrtum zu vermeiden, die Verfehlungen, die in diesem Fall offenbart wurden, mit dem strafrechtlich zur Anklage Gebrachten gleichzusetzen. Die Politik hat entschieden, erst nach Abschluss der strafrechtlichen Klärung und auf Basis der im dortigen Verfahren ermittelten Lage bzw. Darstellung über Konsequenzen, im Sinne von lessons learned, nachzudenken und zu entscheiden.

2. Klärung der stattgefundenen Verfehlungen

Eine anderweitige systematische Klärung des verfehlenden Geschehens im Bottroper Apothekenfall hat nach unserem Wissen weder stattgefunden noch ist sie in Auftrag gegeben worden – weder von der Apothekenaufsicht noch von Seiten der Krankenkassen und ihrer Aufsicht.

3. Klärung der Konsequenzen, die aus dem Bottroper Fall faktisch gezogen wurden

Man kann auch ohne systematische Bestandsaufnahmen, allein auf Basis der öffentlich verfügbaren Informationen aus dem Bottroper Fall erste Lehren ziehen. Sie können zwar noch nicht dem erforderlichen Anspruch auf Systematik genügen, aber zumindest erste perspektivische Hinweise geben. Angemessene Konsequenzen können zudem, das lässt sich strukturell bereits jetzt feststellen, nur in einem Rahmen gezogen werden, der die stark versäulten Strukturen (Apothekenaufsicht – Apotheken standesrechtlich – Krankenkassen) überbrückt.

3.1 Arzneimittelrechtlich /Apothekenaufsicht

a) Das für die Apothekenaufsicht im Bottroper Fall zuständige Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) hat nach Auskunft der Bundesregierung,

im Erlasswege die Apothekenüberwachung in Nordrhein-Westfahlen neu geordnet. Danach sollen bei der Herstellung von Infusionsarzneimitteln verstärkt unangemeldete Inspektionen durchgeführt werden. Außerdem wurden Regelungen zu Kriterien für die amtliche Probennahme und -untersuchung getroffen“.

Das zuständige Ministerium hat das – teilweise – am 17. August 2017 bekanntgegeben. Die Durchführung der Aufsicht selbst ist organisatorisch extrem zersplittert, der Vollzug verbleibt in NRW bei den Kreisen und kreisfreien Städten. In anderen Bundesländern ist dies anders geregelt – ein geringer interregionaler Wissens-Transfer sowie Befangenheits-Situationen sind deshalb eher wahrscheinlich.
Der einschlägige Erlass ist öffentlich nicht verfügbar – ob und in welchem Maße die Änderungen der Beherrschung des Risikos nachkommen, welches mit dem Bottroper Apothekenfall deutlich geworden ist, ist deswegen für Dritte fachlich im Sinne eines professionellen Risiko-Managements nicht beurteilbar.

b) In anderen Bundesländern sind ebenfalls Änderungen im Verfahren der Apothekenaufsicht vorgenommen worden. Zentralisierte Überblicks-Informationen, in welchen Bundesländern das der Fall ist und welche Änderungen dort vorgenommen worden sind, sind nicht verfügbar, weder für die Bundesregierung noch für Dritte.

Beurteilung
ad a) Die Apothekenaufsicht der jeweiligen Bundesländer als auch insbesondere ‚die’ Apothekenaufsicht als System unterliegt ihrerseits keiner qualitätssichernden Aufsicht im Sinne eines professionellen Risiko-Managements. Die Vorbehalte gegen eine (vollständige) Veröffentlichung des Erlasses zur Wahrnehmung der Apothekenaufsicht sind gerechtfertigt – Qualitätssicherung im Risiko-Management-Sinne ist jedoch auch auf Basis vertraulich zu haltender Informationen möglich.
ad b) Bei der Sicherung der Qualität der durch die Bundesländer vorzunehmenden Aufsicht über risikobehaftete Produkte bzw. Situationen liegt ein Grundproblem im Bund-Länder-Verhältnis vor. Das im Bottroper Apothekenfall zu Tage getretene Versagen ist Teil einer Kette von analogen Vorkommnissen in Deutschland: Sie ist kein Einzelfall, sondern vielmehr ein Symptom. Ein Aspekt dieser Problematik ist, dass es über den Stand der Qualität der Aufgabenerfüllung seitens der einzelnen Bundesländer keinen bundesweiten Überblick gibt. Diese Problematik sollte generell einer Lösung zugeführt werden. Der aktuell ins Bewusstsein gestiegene Mangel in der Apothekenaufsicht kann nur ein weiterer Anlass sein, diese Problematik ernst zu nehmen und grundsätzlich zu lösen.

3.2 Apotheken-standesrechtlich

Die Apothekerkammern Westfalen-Lippe und Nordrhein haben im November 2017 angekündigt, „[relativ zur amtlichen Apothekenaufsicht] zusätzliche Maßnahmen, wie ähnlichen Fällen zukünftig vorgebeugt … werden kann [, zu erarbeiten]“. Sie haben im Nachgang zum Bottroper Fall eine Arbeitsgruppe konstituiert. Ergebnisse liegen noch nicht vor, erste sind im Juni 2018 zu erwarten. Inhalt ist ein Entwurf einer Selbstverpflichtungs-Erklärung. Die Apotheken verpflichten sich darin zum einen zu einer konsequenten Einhaltung des Vier-Augen-Prinzips. Zum anderen soll dem vorordnenden Arzt eine Durchschrift der Herstellungsdokumentation zur Verfügung gestellt werden, damit diese möglichst in die Patientenakte aufgenommen werden kann. Darin werden alle am Herstellungsprozess beteiligten Personen benannt. Außerdem müssen sie auf Nachfrage jederzeit einen transparenten und plausiblen Überblick über die bezogenen und verwendeten Ausgangsstoffe und deren Dokumentation geben können.
Die Arbeit der Expertengruppe ist damit aber noch nicht abgeschlossen.
Ein Überblick über Reaktionen der sonstigen Apothekerkammern im Bundesgebiet liegt nicht vor.

Beurteilung
Die Aktivitäten der regionalen Apothekenkammern sind als erste Schritte zu begrüßen – eine systematische Beurteilung ist bei dem begrenzten Stand der Reaktion nicht angemessen.

3.3 Krankenkassen-organisatorisch

Der Bottroper Fall hätte ebenfalls als Abrechnungsbetrug auffallen müssen, nämlich anhand der Differenz zwischen gelieferten und abgerechneten Wirkstoffen.
Es sind keine Ansätze auf Ebene der Krankenkassen zu erwarten, aus dem Bottroper Fall Konsequenzen zu ziehen.

Beurteilung
Ein Beitrag auf Basis der Daten, die bei Krankenkassen eingehen können, ist bei einem Big Data-Ansatz möglich – ist aber bislang nicht in der Diskussion.

4. Beurteilung insgesamt

Der Organisation der Arzneimittel- bzw. Apotheken-Überwachung fehlt ein sie rahmender Risiko-Management-Ansatz. Ohne einen solchen Ansatz ist zu befürchten, dass jede Detail-Konsequenz, die gegenwärtig gezogen wurde, entweder verpufft oder sich als Tropfen auf den heißen Stein erweisen wird.
Ein Risiko-Management-Ansatz hat erstens den drei oben angeführten Säulen (Apothekenaufsicht; Standesrecht; Krankenkassen) vorgelagert zu sein. Zweitens muss dieser auf die Kooperation der drei Säulen als entscheidende, bislang ungenutzte Ressource setzen. Auf Basis eines solchen vorgelagerten Konzepts ist beispielsweise der Beitrag der Apothekenüberwachung unter Anleitung des Arzneimittelgesetzes (AMG) zum Risiko-Management bestimmbar.
Eine im Sinne des Risiko-Managements angemessene Reaktion auf den Bottroper Apothekenfall steht somit aus. Eine solche Reaktion muss auch eine pragmatische Antwort auf die nicht-abschaffbare Spaltung nach politischen Ebenen im föderalen System in Deutschland finden. Die VDW macht im Folgenden Vorschläge dafür, welche Strategien und Schritte ihres Erachtens angesichts dessen erforderlich sind.

Quelle: https://vdw-ev.de/stellungnahme-bottroper-apotheken-fall/

5. Vorschlag zur Vorgehensweise: Lehren und Konsequenzen aus dem Bottroper Fall

Wir empfehlen den beteiligten Institutionen eine intensive Kooperation in Form der folgenden Schritte:

  1. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen erstellt einen Bericht zum Bottroper Apothekenfall, in dem einerseits die vermutlichen Verstöße vollständig eruiert und andererseits die Strukturen in Risiko-Management-Perspektive beschrieben sind, die dies durch Überwachung hätten verhindern sollen.

  2. Die Gesundheitsminister-Konferenz (GMK) vergibt einen Auftrag mit dem Ziel, die Reaktionen und Konsequenzen auf den Bottroper Fall in allen Bundesländern gemäß einer einheitlichen Strukturierung darzustellen. So sollten die Reaktionen der Bundesländer hinsichtlich des Risikomanagements beurteilbar gemacht werden. Aufgabe der Untersuchung ist im Schwerpunkt nicht eine Beurteilung, es geht um Beurteilbarkeit. Als Ergebnis sollte eine Serie von Muster-Vorlagen (Templates) präsentiert werden.

  3. Das Bundesministerium für Gesundheit setzt eine Experten-Kommission ein, mit Sekretariat. Die Leitung hat ein Experte aus dem Bereich Organisation von Risikomanagement. Repräsentiert sind auch die Vertreter der angesprochenen drei Säulen: Apothekenaufsicht auf Länder-Ebene; Apotheker-Standesorganisationen; Krankenkassen. Aufgabe der Kommission ist es zunächst eine rahmende Risiko-Management-Perspektive für die Gewährleistung der Sicherheit einer speziellen Produktklasse, nämlich der Krebsmedikamente (Zytostatika) beispielhaft zu erarbeiten. Darauf aufbauend ist ein Umsetzungs-Konzept zu erarbeiten, mit dem Risiken im Bereich Arzneimittelbereitstellung durch Groß-Apotheken an Großabnehmer nach professionellen Maßstäben beherrscht werden können. Auf dieser Basis werden Konsequenzen für die Aufgaben der drei Säulen Apothekenüberwachung, Apotheken-Standesrecht sowie Krankenkassen-Aufsicht abgeleitet, insbesondere für deren Kooperation. Erarbeitet werden soll eine systemische Sicht gelingender Kooperation zur Risikominimierung. Dieses Konzept kann dann für Änderungen des Systems, gegebenenfalls auch für Gesetzes- oder Verordnungs-Änderungen, genutzt werden.

  4. Bund und Länder bilden eine gemeinsame Kommission, unterstützt durch staatsrechtliche Expertise. Die Anbindung geschieht im Bundeskanzleramt bzw. den Staatskanzleien der Länder. Ziel der Kommission sind folgende beiden Punkte:
    a) Eine Bestandsaufnahme der Bereiche, in denen aufgrund der historisch überkommenen Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern Risikotatbestände bzw. Treuhänderschaften nach aktuellem Stand der Organisationswissenschaften im Durchschnitt, aller Wahrscheinlichkeit nach oder nach Erfahrung der Beteiligten nicht korrekt gemanagt werden.
    b)Einen Verfahrensvorschlag, der für die identifizierten Bereiche den festgestellten Mangel mindert oder beseitigt und zugleich den rechtlichen Änderungsbedarf formuliert.

  5. Hilfsweise, sofern ein Bund-Länder-Konsens im unter 4.) beschriebenen Sinne nicht zustande kommt: Der Bund bittet den Präsidenten des Bundesrechnungshofes in seiner Funktion als Beauftragter für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung um einen Bericht zu den Punkten 1.) und 2.).