Whistleblowerpreis 2011 für Dr. Rainer Moormann.

Begründung der Jury:

Dr. Rainer Moormann arbeitet seit 35 Jahre in der Kernforschungsanlage (KFA), dem
heutigen Forschungszentrum in Jülich (FZJ). Zu seinen wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkten
zählte über lange Zeit die Sicherheit von Kugelhaufen-Reaktoren (Hochtemperatur-Reaktoren,
HTR). Ein Versuchsreaktor dieses Typs (AVR) mit einer Kapazität von 15 Megawatt war in Jülich
bis 1988 in Betrieb. Er wurde mit in Graphitkugeln eingeschlossenem Brennstoff betrieben und mit
Helium-Gas gekühlt. Hochtemperatur-Reaktoren werden von interessierten Kreisen in der
Fachwelt, in der Wirtschaft und in der Politik bis heute dafür gerühmt, dass sie „inhärent sicher“
seien: Bei ihnen bestehe, im Gegensatz etwa zu Leichtwasser-Reaktoren, nicht das Risiko einer
Kernschmelze; nukleare Katastrophen seien damit nicht zu befürchten. Dr. Moormann ist in seinen
Untersuchungen demgegenüber zu dem Schluss gelangt, dass mit der Kugelhaufen-HTRTechnologie
andere, nicht minder bedrohliche Störfallmöglichkeiten und Risiken mit katastrophalen
Folgen für Mensch und Umwelt verbunden sind.

Er hat in den vergangenen Jahren mit wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen im
In- und Ausland, vor allem aber mit Stellungnahmen und Interviews in den Medien maßgeblich
dazu beigetragen, dass das mit Kugelhaufen-Reaktoren verbundene Risikopotenzial in einem
neuen Licht erscheint. Der Mythos der „inhärenten Sicherheit“ dieses Reaktor-Typs ist erschüttert.
Dr. Moormann hat aufgedeckt, dass der 1988 endgültig stillgelegte Versuchsreaktor in
Jülich im Normalbetrieb jahrelang unzureichend gegen überhöhte Betriebstemperaturen im
Reaktorkern gesichert war. Zeitnahe direkte Temperaturmessungen erschienen nicht möglich;
langwierige Messverfahren wurden zwar schon bis 1974 entwickelt, aber bis 1986 nur
unzureichend angewandt. Hinweisen auf zu hohe Reaktortemperaturen wurde nicht hinreichend
nachgegangen. Dr. Moormann hat Indizien dafür vorgelegt, dass der Betreiber-Gesellschaft
mutmaßlich schon seit Ende der 1970er Jahre die Problematik überhöhter Betriebstemperaturen
aufgefallen war. Möglicherweise befürchtete man, dass entsprechende Untersuchungen das Ende
des AVR-Betriebs bedeuten könnten. Die Aufsichtsbehörde gab sich mit der Vorlage von
Modellrechnungen durch die Betreiber-Gesellschaft zufrieden.
Durch die Untersuchungen von Dr. Moormann ist auch der begründete Verdacht
aufgekommen, dass der AVR Jülich am 13. Mai 1978 nur knapp einem GAU mit den verheerenden
Folgen einer weitflächigen radioaktiven Verseuchung der Umwelt entging. Ursache dafür war ein
Haarriss in einem Dampferzeuger-Rohr, das sich über dem Reaktorkern befand und aus dem mehr
als eine Woche erst Dampf und später flüssiges Wasser in den Reaktorbehälter gelangte (ca.30 t).
Wenn das Leck und damit die Wassereinbruchsrate größer gewesen und bei den typischerweise
überhöhten Temperaturen eingetreten wäre, so Dr. Moormann, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit
in sehr großen Mengen hochexplosives Gas (Wasserstoff plus Kohlenmonoxid) entstanden.
Weiterhin hätte es durch das Graphit-Wasser-Gemisch einen positiven Reaktivitäts-Koeffizienten
geben können, der innerhalb kürzester Zeit zum Durchgehen des Reaktors geführt hätte – wie in
Tschernobyl. Die geringen Sicherheitsbarrieren des AVR wären durchbrochen worden. Bereits die
Freisetzung der radioaktiven Stäube im Reaktorbehälter, die durch die schlechte Rückhaltung der
Brennstoffkugeln bedingt war, hätte zu einer erheblichen Kontaminierung der Umgebung geführt.
Betreiber-Gesellschaft, FZ Jülich und Aufsichtsbehörden in Land und Bund haben sich der
Aufarbeitung dieser Gefahrensituation bisher nicht hinreichend gestellt.
In der Folge des 1978 als normaler Störfall eingestuften Wassereinbruchs gelangte zudem
beim Abpumpen radioaktiv hoch kontaminiertes Wasser aus dem Reaktorbehälter ins Erdreich
unter dem Reaktor und ins Grundwasser. Die konkreten Auswirkungen dieser Kontamination liegen
bis heute im Dunkeln. Über damit verbundene Gesundheitsgefährdungen sowie einen möglichen
Zusammenhang mit gehäuften Leukämieerkrankungen im Umland herrscht Ungewissheit. Der
gegenwärtige Leiter der Reaktorsicherheitsforschung am FZ Jülich, Prof. Allelein, äußerte unlängst
vor laufenden Kameras im WDR, eine Gefahr für Mensch und Umwelt sei vom AVR niemals
ausgegangen. Die Analyse des Störfalls von 1978 sei nicht Sache seines Instituts. Nach einer
dreiteiligen Serie im WDR im April 2011 und Präsenz in den ARD-Tagesthemen am 8.4.2011 hat
das FZ Jülich nunmehr am 11.4.2011 in einer Presseerklärung Stellung genommen. Darin heißt es:
„Die von Dr. Moormann dargestellten Fakten werden – nach Einschätzung des
Forschungszentrums – in der Fachwelt nicht in Frage gestellt. Wissenschaftlich kontrovers wird
hingegen diskutiert, wie die Schlussfolgerungen von Dr. Moormann im Hinblick auf die
Spaltproduktfreisetzung innerhalb des Reaktors und die Sicherheit des Betriebes des AVR damals
zu bewerten sind.“
Nun soll es offenbar zu einer ernsthaften Untersuchung des damaligen Störfalls durch ein
vom FZ Jülich in „Reaktion auf das Reaktorunglück in Fukushima“ in Aussicht genommenes
Expertengremium kommen. Dessen pluralistische Zusammensetzung, Arbeitsfähigkeit und
wissenschaftliche Unabhängigkeit ist bislang allerdings nicht hinreichend gesichert.
Angesichts der intensiven Bestrebungen der „Atom-Community“, nach dem seit 2001
beschlossenen „Atom-Ausstieg“ Deutschlands das technologische Know-How wie auch
Konstruktionselemente des HTR nunmehr zu exportieren und z.B. in Südafrika, China und anderen
Ländern, darunter Polen, zu vermarkten, ist eine von der Betreibergesellschaft und vom FZ Jülich
unabhängige Untersuchung der AVR/HTR-Technologie überfällig. Ihr Ergebnis wird u.a. daran zu
messen sein, inwieweit sie sich detailliert und allgemein nachvollziehbar mit den von Dr. Moormann
aufgezeigten Wissens- und Forschungslücken auseinandersetzt.
Dr. Moormanns Whistleblowing begründet auch starke Zweifel an der Atomaufsicht. So
wurde Hinweisen auf viel zu hohe Temperaturen im Reaktorkern nicht nur vom Betreiber und vom
FZJ, sondern auch von Seiten der Atomaufsichtsbehörde nicht rechtzeitig nachgegangen. Hier gilt
es die Verantwortlichkeiten zu klären. Bis heute sind die Ursachen der stark überhöhten Core-
Temperaturen und anderer wesentlicher Bedingungen des Störfalls von 1978 sowie daraus
resultierender Sicherheitsprobleme nicht zweifelsfrei ermittelt. Es ist nicht einmal sicher, dass
ausnahmslos alle sicherheitsrelevanten Vorkommnisse lückenlos dokumentiert wurden.
Das Whistleblowing von Dr. Moormann hat zudem dazu beigetragen, dass die Probleme
und immensen Kosten der Entsorgung des 1988 stillgelegten AVR Jülich für Steuerzahler und
Wähler ins öffentliche Blickfeld geraten sind. Wie intern seit langem bekannt, ist der
Reaktordruckbehälter radioaktiv hoch kontaminiert. Die genauen Ursachen für die hohe
Kontamination konnten bisher nicht ermittelt werden, zumal der Reaktor mit Beton ausgegossen
wurde, um den radioaktiven Staub zu binden. Offen ist, inwieweit es sich bei der hohen
Kontaminierung um ein "inhärentes" Problem der Kugelhaufen-Technologie handelt. Die
entstehenden Entsorgungskosten sind zwischenzeitlich von 39 Millionen DM in den Prognosen aus
den 90er Jahren auf – vorläufig - 600 Millionen € explodiert, die von den Steuerzahlern aufgebracht
werden sollen. Eine beschönigende Informationspolitik hat dies lange zu verschleiern versucht.
Nach der Stilllegung des AVR 1988 und der Umwandlung der KFA in das FZ Jülich wurde
dort an den Sicherheitsproblemen der HTR-Technologie weitergeforscht. Die Sicherheitsforschung
für den geplanten HTR-Reaktor in Südafrika erbrachte reichlich Drittmittel. Zu den
ungeschriebenen Gesetzen am FZ Jülich zählte dabei, dass keine Negativmeldungen über die
Reaktorsicherheit „nach draußen“ gelangen sollten. Dass Dr. Moormann seine Kritik trotzdem
intern und öffentlich ohne disziplinare Sanktionen artikulieren konnte, ist erfreulich. Dennoch hat er
teuer für seine Zivilcourage zahlen müssen. Er wurde intern und von der externen „Kugelhaufen-
Community“ als Nestbeschmutzer diffamiert und als „verrückt“ („insane“) verleumdet Seine
Arbeitsgruppe im FZ Jülich wurde aufgelöst. Er selbst wurde in eine andere Abteilung versetzt, wo
er für das Projekt „Europäische Spallationsquellen“ (ESS) arbeitet. Dort wurde er aufgefordert,
seine „nuklearfeindlichen Aktivitäten“ einzustellen, da man auf Aufträge aus dem Nuklearbereich
angewiesen sei. In Kürze soll er „aus finanztechnischen Gründen“ erneut versetzt werden. In
wenigen Monaten geht er in den vorzeitigen Ruhestand.
Dr. Moormanns Whistleblowing und seine Orientierung am Gemeinwohl sind beispielhaft für
verantwortliches wissenschaftliches Handeln. Darum erhält er den Whistleblowerpreis 2011.