Whistleblower-Preis 2011 für die bisher anonyme Person, die über Wikileaks das Video ‚Collateral Murder‘ publik gemacht hat.

Begründung der Jury


Den Whistleblowerpreis 2011 erhält zur Hälfte eine bislang anonyme Persönlichkeit. Sie hat im
April 2010 ein von den US-Behörden als Staatsgeheimnis gehütetes Dokumentations-Video
über ein von US-Soldaten im Irak verübtes schweres Kriegsverbrechen der Welt-Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Die bisherige Anonymität dieser Persönlichkeit steht der Preisverleihung
nicht entgegen. Ausgezeichnet und geehrt wird das Whistleblowing. Die Preisübergabe an
den/die Whistleblower/in wird erfolgen, sobald dessen/deren Identität feststeht. Bis dahin wird
das Preisgeld - zusammen mit für diesen Zweck zusätzlich eingeworbenen Spenden -
treuhänderisch hinterlegt und für die Unterstützung derjenigen verwendet, denen die
Veröffentlichung dieses Videos straf- oder disziplinarrechtlich zum Vorwurf gemacht wird.

Das dienstlich aufgenommene Bord-Video zeigt die gezielte Tötung von mindestens
sieben Zivilpersonen durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers am 12.7.2007 im
Irak. Unter den getöteten Zivilisten befanden sich zwei Journalisten der Nachrichtenagentur
Reuters. Ein bereits schwerverletzter Journalist wird erschossen, als mehrere Personen ihn
bergen wollen. Das todbringende „engagement“ der Hubschrauberbesatzung war zuvor über
Funk von ihrer militärischen Einsatzleitung mehrfach genehmigt worden. Das Bord-Video
‚Collateral Murder‘( http://www.collateralmurder.com/ ) dokumentiert zugleich die mit den
Mordhandlungen einhergehenden rüden und menschenverachtenden Begleitkommentare der
Täter. Außerdem beweist es, dass offizielle Sprecher der multinationalen Streitkräfte im Irak
Öffentlichkeit und Presse über den Vorfall belogen haben. Schließlich ist damit klar, dass das
von der US-Army eingeleitete Vor-Ermittlungsverfahren gegen die an der Tat beteiligten USSoldaten
2007 zu Unrecht eingestellt worden ist.
Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass nunmehr gegen die Täter vorgegangen würde.
Stattdessen konzentrieren sich die Strafverfolgungsbehörden darauf, den vermeintlichen
Whistleblower zu überführen. Das ist die alte, bedrohliche Reaktion, wenn Staaten „im
nationalen Interesse“ schwerstes Unrecht begehen: Nicht derjenige ist schuldig, der das
Verbrechen begangen hat, sondern der Bote, der die Nachricht der Öffentlichkeit überbringt.
Militärische Kampfhandlungen dürfen sich nach geltendem Recht (vgl. u.a. Art. 51 und
52 des I. Genfer Zusatzprotokolls) nur gegen die Streitkräfte des Gegners und andere
militärische Ziele richten, nicht jedoch gegen die Zivilbevölkerung oder zivile Objekte.
Unterschiedslose Angriffe sind verboten. Zivilpersonen, die nicht an Kampfhandlungen
teilnehmen, sind von Soldaten – auch in Kampfgebieten - zu schonen und zu schützen. Sie
dürfen weder angegriffen noch getötet, verwundet oder gefangen genommen werden.
Repressalien gegen die Zivilbevölkerung sind verboten, ebenso u.a. Maßnahmen zur
Einschüchterung oder Terrorisierung. Selbst bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel sind alle
erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die Zivilbevölkerung, die sich im Bereich oder in
unmittelbarer Nähe des zu bekämpfenden Objekts befindet, zu schonen. Wenn möglich, ist die
Zivilbevölkerung vor einem Angriff zu warnen. Jeder einzelne Soldat ist persönlich für die
Einhaltung dieser Regeln des sog. humanitären Völkerrechts verantwortlich. Vorgesetzte dürfen
Befehle nur unter strikter Beachtung dieser Regeln erteilen. Wer diese Regeln des humanitären
Völkerrechts, das auch im Völkergewohnheitsrecht seinen Niederschlag gefunden hat, verletzt,
begeht ein Kriegsverbrechen, das sowohl nach nationalem als auch nach internationalem Recht
als schwere Straftat zu verfolgen ist.
Gravierende gesetz-, verfassungs- oder völkerrechtswidrige Vorgänge oder Zustände
und entsprechende Handlungen staatlicher Amtsträger bekannt zu machen, kann dem
"nationalen Interesse" eines demokratischen Rechtsstaates niemals abträglich sein. Dieses
erfordert die Einhaltung seiner Rechtsordnung, nicht aber deren Verletzung. Anderenfalls kann
von einem Rechtsstaat nicht mehr die Rede sein. Jede rechtsstaatliche Demokratie ist auf die
Kontrolle ihrer Amtsträger durch ihre Bürgerinnen und Bürger und die Medien existenziell
angewiesen. Diese Kontrolle kann nur dann hinreichend effektiv sein, wenn die dafür
notwendigen Informationen zur Verfügung stehen. In einer rechtsstaatlichen Demokratie liegt es
deshalb gerade nicht im öffentlichen Interesse ("Gemeinwohl"), schweres staatliches Unrecht,
Straftaten oder gar Verbrechen von Amtsträgern zu vertuschen und vor der Öffentlichkeit und
den Wahlbürgern geheim zu halten.
Deshalb hatte der dafür 1935/36 mit dem Friedensnobelpreis geehrte Carl von Ossietzky
Recht und verdient nach wie vor höchste Anerkennung dafür, dass er sich 1929 entschloss, in
seiner Zeitschrift Die Weltbühne die geheime militärische Zusammenarbeit der deutschen
Reichswehr mit sowjetischen Militärstellen publik zu machen. Diese geheime, auf
Kriegsvorbereitung hinter dem Rücken des deutschen Parlaments gerichtete Wiederaufrüstung
der deutschen Reichswehr (‚schwarze Reichswehr‘) verletzte die Abrüstungsbestimmungen des
Versailler Vertrages von 1919. Sie verstieß damit zugleich gegen geltendes deutsches
Verfassungsrecht, das diese völkerrechtlichen Regelungen mit Verfassungsrang ausgestattet
hatte. Es war deshalb grobes Unrecht, dass der diese ‚illegalen Staatsgeheimnisse‘ enthüllende
Flugzeugexperte Walter Kreiser und Carl von Ossietzky als Chefredakteur der diese
Enthüllungen publizierenden Weltbühne dafür angeklagt und vom Reichsgericht 1931 wegen
Verrats militärischer Geheimnisse zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurden.
Anerkennung verdient auch der US-Regierungsangestellte Daniel Ellsberg, der Träger
des Whistleblower-Preises 2003, der 1971 die als Staatsgeheimnis klassifizierten ‚Pentagon
Papers‘ an die Presse weitergab und damit geheime Ziele des Vietnam-Krieges sowie
folgenschwere Lügen der US-Regierungen der Präsidenten Truman, Eisenhower, Kennedy und
Johnson gegenüber dem US-Kongress und der Öffentlichkeit aufdecken half. Er hat wiederholt
zum Whistleblowing im und über den Irak-Krieg aufgerufen. Für ihn ist der nun des
Whistleblowing verdächtigte Bradley Manning ein „wahrer Held“.
Die Offenbarung von Vorgängen, die gegen die Verfassung, insbesondere die
Grundrechte, und gegen das Völkerrecht verstoßen, müssen durch den Gesetzgeber oder
zumindest die auslegende Rechtsprechung von strafrechtlicher Verfolgung freigestellt werden.
Zu Recht wird deshalb in Art. 68 der Hess. Verfassung bestimmt, dass "niemand … zur
Rechenschaft gezogen werden (darf), wenn er auf Tatsachen hinweist, die sich als eine
Verletzung völkerrechtlicher Pflichten darstellen." Seit der Strafrechtsreform von 1968 gibt es
dazu auch im deutschen Bundesrecht erste rudimentäre Ansätze. Die Vorschrift des § 93 Abs.
2 StGB regelt, dass "Tatsachen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder
unter Geheimhaltung gegenüber den Vertragspartnern der Bundesrepublik Deutschland gegen
zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen verstoßen, keine Staatsgeheimnisse"
sind.
Es wurde berichtet, dass sich der von den US-Behörden wegen der Weitergabe des
"Irak-Videos" an Wikileaks beschuldigte Soldat Bradley Manning auf dem militärischen
Dienstweg vergeblich an seine Vorgesetzten gewandt hatte, um eine Aufklärung der auf dem
Video dokumentierten Vorgänge zu erreichen. Von ihnen erhielt er jedoch lediglich die
Aufforderung zu schweigen. Was hätte ein US-Soldat oder anderer Insider, der von dem Video
Kenntnis erhielt, nach den Erfahrungen Daniel Ellsbergs verantwortlicherweise anderes tun
sollen, als sich an die Medien zu wenden und damit zum Whistleblower zu werden?
Die US-Gerichte werden entscheiden müssen, ob sie auf eine solche Fallkonstellation
ihre langjährige ‚public policy‘-Rechtsprechung anwenden können. Danach kann von keinem
Bürger verlangt werden, etwas zu tun, "das in der Tendenz gemeinschädlich oder gegen das
Gemeinwohl gerichtet ist".
Wikileaks verdient für seine informationstechnische Professionalität und seinen Mut
Anerkennung. Aber auch Wikileaks und die anderen Medien, die darüber berichten, „leben“
davon, dass es Menschen gibt, die sich zu Wort melden, wenn anderen Menschen im
Geheimen Unrecht geschieht, sie unterdrückt oder gar getötet werden. Ohne Whistlelower
könnte auch Wikileaks nicht Wahres berichten, wo Lüge zur herrschenden Wahrheit zu werden
droht.
Darum verleihen IALANA und VDW der bislang anonymen Persönlichkeit, die als
Informant Wikileaks die Daten zum Video ‚Collateral Murder‘ übermittelt hat, den - diesmal
geteilten - Whistleblowerpreis 2011.