Laudatio Nikitin  - Zur Verleihung des „Whistleblower-Preises 1999“ an Alexander Nikitin

Von Dieter Deiseroth

„Whistleblower-Preis 1999“ - nicht viele werden mit diesem Terminus und dieser Bezeichnung Konkretes oder gar
Vertrautes verbinden können. Der Begriff „Whistleblower“ gehört nicht zum gewohnten Wortschatz eines kritischen
Zeitgenossen.Was ist ein Whistleblower?


Der Begriff „whistleblowing“ kommt aus den USA und hat dort seit vielen Jahren Eingang in den allgemeinen
Sprachgebrauch gefunden. Von „Whistleblowing“ spricht man vor allem dann, wenn Beschäftigte sich aus
gemeinnützigen Motiven gegen ungesetzliche, unlautere oder ethisch zweifelhafte Praktiken wenden, die ihnen
innerhalb „ihres“ Betriebes oder „ihrer“ Dienststelle bekanntgeworden sind. Whistleblower widmen sich als Insider
aus „ihrer“ Organisation heraus vor allem Fragen des Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes sowie der
Sicherheit von Produktionsanlagen sowie anderer gefahrenträchtiger Einrichtungen; sie versuchen zudem,
Korruption und Verschwendung in staatlichen und privatwirtschaftlichen Bürokratien aufzudecken; sie lenken -
allgemein gesprochen - die Aufmerksamkeit auf rechtlich oder ethische fragwürdige Praktiken von
Entscheidungsträgern, die Interessen von Bürgern oder der Allgemeinheit beeinträchtigen (können). Ins Deutsche
läßt sich der Begriff des „whistleblowing“ (wörtlich: „die Pfeife blasen“) vielleicht am ehesten mit der Wendung
„Alarm schlagen“ übersetzen. Whistleblower sind also Personen mit Zivilcourage, „ethische Dissidenten“, die aus
gemeinnützigen Motiven die „Alarmglocke“ läuten, um auf bedenkliche Ereignisse oder Vorgänge in ihrem Arbeitsoder
Wirkungsbereich hinzuweisen und auf Abhilfe zu dringen.

Warum die Vergabe eines solchen Whistleblower-Preises? Zivilcourage ist eine nicht sehr verbreitete Tugend. Dies
gilt nicht nur für uns hier in Deutschland, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten. Wie einfach
und bequem ist es, seinen Job zu tun, sich einzufügen, nicht anzuecken, nicht aufzufallen, bei Mißständen, die das
Eigeninteresse nicht unmittelbar berühren, wegzuschauen und damit verbundenen Schwierigkeiten und Problemen
aus dem Weg zu gehen. Zivilcourage zu zeigen, setzt auf der individuellen Ebene vieles voraus: einen kritischen und
wachen Verstand, Charakterstärke, Mut, Offenheit, Konfliktbereitschaft und vor allem einen kultivierten Umgang
mit der eigenen Angst. Zivilcourage ist - bei Lichte betrachtet - kein bloßes individuelles Problem, keine Sache für
Einzelgänger und Sonderlinge. Sie hat wichtige soziale und gesellschaftliche Voraussetzungen. Wichtige soziale
Bedingungen für Zivilcourage sind vor allem Ermutigung, Anerkennung, Zuspruch und Solidarität. Ohne soziale
Anerkennung, ohne Ermutigung, ohne solidarischen Zuspruch steht der Whistleblower in der latenten Gefahr, zum
Nestbeschmutzer, zum Einzelgänger und zum Außenseiter abgestempelt zu werden. An sozialer Isolierung kann er
zerbrechen. Andere werden ein solches persönliches Schicksal dann noch abschreckender, noch angstmachender
finden.

Der Whistleblower-Preis, den die Deutsche Sektion der IALANA, die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler
(VDW) und die „Ethikschutzinitiative“ gestiftet haben und in deren Namen ich heute die Ehre habe, zu Ihnen zu
sprechen, soll eine Form dieses Zuspruchs, dieser Anerkennung, dieser Ermutigung und dieser Solidarität
ausdrücken, die Bürgerinnen und Bürger mit großer Zivilcourage brauchen, wenn sie die zahlreichen Probleme und
Schwierigkeiten im privaten und beruflichen Umfeld sowie die Anfeindungen und Zumutungen im öffentlichen
Raum nicht nur aufsichnehmen, sondern auch aushalten und ohne dauerhafte Beschädigung durchstehen wollen.
Mit dem im diesem Jahr erstmals gestifteten „Whistleblower-Preis“ soll signalisiert werden: Wir drücken unsere
ganz besondere Wertschätzung für ein Verhalten aus, das nicht von Eigennutz, sondern primär von gemeinnützigen
Motiven, von Gemeinsinn geprägt ist und das in einer für unser Zusammenleben und Überleben bedeutsamen Frage
ein großes Maß an Zivilcourage dadurch offenbart, daß der oder die Betreffende kritisch zu Vorgängen oder
Entwicklungen Stellung genommen oder auf nicht tolerable Gefahren und Risiken hingewiesen oder aus
Gewissensgründen oder wegen anderer ethischer Bedenken die Mitarbeit an Tätigkeiten oder Entwicklungen
abgelehnt und verweigert hat und dabei erhebliche Nachteile oder Gefahren für die persönliche oder berufliche
Karriere, für die eigene Freiheit oder gar für das eigene Leben in Kauf genommen hat.
Wie Sie wissen, wird der „Whistleblower-Preis“ in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben. Zukünftig soll dies im
Regelfalle alle zwei Jahre der Fall sein. Ich freue mich sehr, daß ich heute den diesjährigen Preis, den
„Whistleblower-Preis 1999“, der mit einer Urkunde und einem Preisgeld verbunden ist, an Alexander Nikitin aus St.
Petersburg übergeben darf.

Gestatten Sie mir deshalb einige Wort zum Preisträger. Der Preisträger Alexander Nikitin Er wurde im Jahre 1953
geboren. Anschließend absolvierte er eine Ausbildung am Marine-Ingenieur Kolleg in Sewastopol; diese schloß er
im Jahre 1974 als graduierter Marine-Ingenieur ab. Anschließend leistete er bis 1985 Dienst in der sowjetischen
Nordflotte, u.a. auf dem sowjetischen Atom-U-Boot K 387. Von 1985 bis 1987 studierte er dann an der damaligen
Grechko Marine-Akademie in Leningrad, vornehmlich mit dem Schwerpunkt „Schiffs-Atomreaktoren“. Nach dem
Examen war er von 1987 bis 1992 auf der Militärbasis 20601 in Moskau eingesetzt, und zwar in der beim
sowjetischen Verteidigungsministerium ressortierenden Inspektion für Nukleare Sicherheit von Atomreaktoren,
zuletzt als Chefinspektor und Leiter der Inspektionsgruppe. Im November 1992 schied er freiwillig aus dem Dienst
der russischen Streitkräfte aus. Sein letzter Militärdienstgrad war der eines Kapitäns („Captain of the first Degree“).
Er zog dann nach St. Petersburg zu seiner Familie und übte dort zunächst verschiedene Übergangstätigkeiten aus,
u.a. im Autohandel. 1994 knüpfte er erste Kontakte zu der norwegischen Bellona-Stiftung, die 1986 unter dem
Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl gegründet worden war und ihren Sitz in Oslo hat sowie Außenbüros in
St. Petersburg, Murmansk, Brüssel und Washington unterhält. 1995 legte er eine im Auftrag der Bellona-Stiftung
erarbeite Vorstudie zum Thema „Sources of Radioactive Pollution in the Murmansk and Archangelsk Regions“
(„Quellen radioaktiver Verseuchung in den Regionen von Murmansk und Archangelsk“) vor. 1996 wurde die
Hauptstudie („Bellona-Report - Volume 2: 1996) „The Russian Northern Fleet. Sources of Radioaktive
Contamination“ in Oslo veröffentlicht (168 Seiten). Autor der Studie ist Alexander Nikitin zusammen mit seinem
Schwiegersohn Igor Kudrik und Thomas Nilsen.
Heute lebt Alexander Nikitin in St. Petersburg. Sein Reisepaß ist eingezogen. Er darf nicht ins Ausland reisen.
Deshalb kann er auch nicht heute hier in Berlin sein und den „Whistleblower-Preis 1999“ nicht persönlich in
Empfang nehmen. In wenigen Tagen, am 23. November dieses Jahres, wird er sich vor einem Strafgericht in St.
Petersburg zu verantworten haben.

Was wirft man ihm vor? Worauf lautet die Anklage?

Die erwähnte Vorstudie und die Hauptstudie im Rahmen des Bellona-Reports, speziell die darin enthaltenen Kapitel
2.3.3 und Kapitel 8, sind der Stein des Anstoßes. Die Anklage lautet auf Landesverrat, Spionage (Art. 275 des
russ.Strafgesetzbuches) Geheimnisverrat (Art. 283 des russ.Strafgesetzbuches) und Fälschung von oder Handel mit
amtlichen Dokumenten (Art. 196 des früheren russischen Strafgesetzbuches) Der Tatvorwurf geht dahin: Alexander
Nikitin habe nach seinem 1992 erfolgten Ausscheiden aus dem Dienst der sowjetischen bzw. russischen Streitkräfte
mit Hilfe eines Bekannten Zugang zur Spezialbibliothek der Marine Akademie in St. Petersburg gesucht und
gefunden und dort in dieser Bibliothek Texte mit Angaben über Unfälle und Zwischenfälle auf den sowjetischen
Atom-U-Booten in den Jahren 1965 bis 1989 eingesehen und daraus Fotokopien gefertigt. Diese Unterlagen habe er
dann für seine Arbeiten im Rahmen des Bellona-Reports verwendet und damit unzulässigerweise der Öffentlichkeit
bekanntgemacht.

In der Studie „Quellen der radioaktiven Verseuchung in den Gebieten Murmansk und Archangelsk“ und in dem
„Bellona Report“, an denen Alexander Nikitin mitgearbeitet hat, wurde u.a. auf einen verwahrlosten Atommüllplatz
der russischen Nordmeerflotte in der Andrejew Bay, rund 45 km von der norwegischen Grenze entfernt, aufmerksam
gemacht. Dort soll in rostigen Behältern weithin ungesichert radioaktives Material lagern. Nikitin und die
Umweltschutzorganisation Bellona verweisen darauf, daß sie bei der Erarbeitung der Studie nur allgemein
zugängliche Quellen verwendet hätten und daß im übrigen im russischen Gesetz über Staatsgeheimnisse
Informationen über den Zustand der Umwelt ausdrücklich von der Geheimhaltungspflicht ausgenommen seien.
Alexander Nikitin wurde am 6. Februar 1996 verhaftet. Zwei Monate wurde ihm jeder Rechtsbeistand verweigert.
Die Anklage gegen ihn wurde von dem KGB-Nachfolger FSB vorbereitet. Der Vorwurf der Spionage und der
Weitergabe von Staatsgeheimnissen wurde gestützt auf Stellungnahmen einer Expertengruppe der Russischen
Generalstabs und des Geheimdienstes FSB. Im September 1996 wurden die Ermittlungen abgeschlossen. Im
Dezember 1996 gelang es seinen Anwälten, beim stellv. russischen Generalstaatsanwalt in Moskau die Entlassung
von Alexander Nikitin aus der Untersuchungshaft zu erwirken. Nach vom russischen Generalstaatsanwalt
angeordneten Nachermittlungen kam es dann zur förmlichen Anklage, zu mehreren Gerichtsverfahren. Diese endeten
durchweg jeweils damit, daß die Gerichte die in der Anklage gegen Alexander Nikitin erhobenen Vorwürfe für
unzureichend begründet hielten und eine Verurteilung ablehnten. Allerdings eröffneten die Gerichte der
Staatsanwaltschaft und dem russischen Geheimdienst FSB jeweils die Möglichkeit, die Anklage nachzubessern und
neue Beweismittel in das anhängig bleibende und fortgeführte Strafverfahren einzuführen. Am 2. Juli 1999 wurde
schließlich die 8.Version der Anklage vorgelegt. Hierüber soll ab dem 23. November 1999 vor dem Leningrader
Stadtgericht (in der Naberezjnaya Reki Fontanki 16) verhandelt werden. Wie Sie vielleicht wissen, hat die Deutsche
Sektion der IALANA mit Unterstützung des Internationalen Büros der IALANA im September 1999 eine
„Projektgruppe Alexander Nikitin“ gebildet. Diese soll das Leningrader Strafverfahren sowie das von Nikitin und
seinem Rechtsanwalt vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eingeleitete
Beschwerdeverfahren kritisch begleiten. U.a. ist vorgesehen, zu dem Leningrader Strafprozeß einen
Prozeßbeobachter zu entsenden und damit zu einer internationalen Öffentlichkeit für das Verfahren beizutragen.
Bei dieser Gelegenheit wird der Vertreter der Deutschen Sektion der IALANA dann auch den hier und heute
vergebenen „Whistleblower-Preis 1999“ an Alexander Nikitin persönlich überreichen.

Ich glaube, ich spreche in Ihrer aller Namen, wenn ich von hier aus schon heute den Preisträger Alexander Nikitin zu seiner heutigen Ehrung
sehr herzlich beglückwünsche und ihm für seine Verteidigung im Strafgerichtsverfahren in St. Petersburg allen
erdenklichen Erfolg wünsche. Herzlichen Glückwunsch, Alexander Nikitin. Wir hätten Alexander Nikitin sehr gerne
heute persönlich unter uns gehabt. Wir hätten uns gefreut, seine Stimme hier in der Humboldt Universität zu Berlin
authentisch zu vernehmen. Die russischen Behörden haben dies nicht zugelassen. Wir bedauern dies sehr. Auch sein
Schwiegersohn, der im Programm angekündigte Igor Kudrik, hat aus persönlichen Gründen nicht kommen können.
Wir freuen uns, daß an seiner Stelle Herr Dr. Johannes Schlootz von der Freien Universität Berlin, der mit Alexander
Nikitin persönlich befreundet ist, heute hier unter uns ist und anschließend die persönlichen Grüße von Alexander
Nikitin übermitteln und zu uns sprechen wird.

Vorher, also im unmittelbaren Anschluß, werden zunächst Frau Annegret Falter für die Vereinigung Deutscher
Wissenschaftler (VDW) und Dr. Frank Vogelsang für die „Ethikschutzinitiative“ sprechen. Die Laudatio auf den
Preisträger Alexander Nikitin wird dann von Herrn Bundesverfassungsrichter Dr. Jürgen Kühling (Karlsruhe) sowie
von Herrn Paul van Buitenen (Brüssel) gehalten, dem - so möchte ich sagen - berühmtesten Whistleblower West-
Europas; Paul van Buitenen, ist Beamter der Europäischen Union in Brüssel und hat als Enthüller von
verschwiegenen und vertuschten Fakten über den EU-Finanzskandal im Frühjahr 1999 entscheidend zum Rücktritt
der EU-Kommission unter Präsident Jaques Santer beigetragen.