Can Dündar in ÖZGÜRÜZ vom 7.9.20

30 Jahre sind vergangen, seitdem die Türkei Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkannt hat. In diesen 30 Jahren ist das Gericht in Straßburg zur Endstation derjenigen geworden, die keine Hoffnung mehr in die türkische Justiz setzen. Mit steigenden Unrechtmäßigkeiten in der Türkei ist auch die Anzahl der Akten aus der Türkei gestiegen, die sich vor den europäischen Richtern angehäuft haben. Immer noch richten sich 10.000 von fast 60.000 Klagen vor dem Gerichtshof gegen die Türkei. Dabei gibt es 47 Mitgliedstaaten.

 

Das Gericht hat sich sehr bemüht, eine Lösung für diese Anhäufung zu finden. Es hat Ankara mit Schadensersatzverpflichtungen überschüttet, doch ohne Erfolg. Erdoğan war in einer „Wir zahlen nicht, was können sie denn schon machen“-Stimmung. Er dachte, dass der Westen vor allem aufgrund der Geflüchteten und der Europarat aufgrund von finanzieller Unterstützung auf die Türkei angewiesen seien. Daraufhin hat der EGMR versucht, das Verfassungsgericht der Republik Türkei zu stärken und sicherzustellen, dass die Verfahren mit einem Vergleich beendet werden, bevor sie nach Straßburg kommen; auch hier ohne Erfolg. Zwei Richter des Verfassungsgerichts sind immer noch im Gefängnis...

Gleichzeitig war die Amtszeit der türkischen Richterin am EGMR im April 2017 abgelaufen. Die neuen Kandidaten und Kandidatinnen, die die AKP Regierung vorgeschlagen hatte, wurden abgelehnt, weil sie in Straßburg nicht als „fachlich geeignet“ angesehen worden waren. Nach einer einjährigen Lücke wurde die jüngere Schwester eines AKP-Abgeordneten, die Absolventin der Harvard University ist, zur türkischen Richterin gewählt.

Es scheint, als hätte die neue Richterin die Spannung zwischen dem EGMR und Ankara beendet. Diesen „Erfolg“ sprechen wir ihr zu, denn letzte Woche hat der isländische Präsident des EGMR, Róbert Ragnar Spanó, der einen umstrittenen Türkei-Besuch gemacht hatte, sich aller Kritik gegenüber taub gestellt und einen Ehrendoktor an der Universität entgegengenommen, an der Saadet Yüksel Dozentin ist.

Anschließend ging er nach Mardin, die Stadt, in der der Bruder Saadet Yüksels zum AKP-Abgeordneten gewählt worden war. Hier besuchte er gemeinsam mit ihm die Imam-Hatip-Schule, eine staatliche Schule mit dem Schwerpunkt religiöse Erziehung, die den Namen seines Vaters trägt. Natürlich standen ein Empfang durch Erdoğan im Palast und eine Rede an der Justizakademie auch auf dem Programm.

 

Spanó, der überall, wo er war, von Rechtsstaatlichkeit gesprochen hatte, hatte keine Hemmungen, eine Rede an der Justizakademie eines Landes zu halten, in dem 4200 Richterinnen und Richter aus dem Amt entlassen wurden, eine Robe an einer Universität eines Landes zu tragen, in dem 6000 Akademikerinnen und Akademiker rechtswidrig gekündigt wurden, und den Präsidenten zu besuchen, der Schuld an all diesen Unrechtmäßigkeiten war. Nicht nur sein eigenes Ansehen, sondern auch das des Gerichts hat er auf Null reduziert.

 

Nun werden Spanó und sein Gericht über die Klagen dieser rechtswidrig entlassenen Richter und Akademikerinnen entscheiden. Und es scheint, dass jede Entscheidung, die er bis zum Ende seiner Amtszeit fällen wird, im Schatten dieses unglücklichen Besuchs stehen wird.

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