Tausende Menschen in Pakistan, Afghanistan, Jemen oder Somalia starben seit 2002 durch US-Drohnenangriffe

Barack Obama wird in die Geschichte eingehen als erster Politiker der Welt, dem ein Friedensnobelpreis auf Vorschuß geschenkt wurde – und als US-Präsident, der die Drohnen zur »Waffe der Wahl« in einem weltweiten Krieg ohne Regeln und ohne Grenzen machte. Über 400 Mal schlugen die USA seit dem Ersteinsatz der neuen Waffe in Afghanistan am 4. Februar 2002 mit ihren unbemannten Flugkörpern zu. Mehr als 350 dieser Mordeinsätze, fast 90 Prozent, fielen in die vier Amtsjahre von Obama bis 2012.


Das liegt nicht nur daran, daß dieser Präsident eine spezielle Vorliebe für das Hinrichten von Menschen ohne Gerichtsurteil entwickelt hat und sich gern als oberster Henker seines Landes in Szene setzt. Es hat vor allem mit der Entwicklungsgeschichte der Drohnen zu tun. Allein die Zahl der verfügbaren ferngesteuerten Flugkörper bei den US-Streitkräften ist seit Beginn des Afghanistan-Krieges von 54 auf mehr als 4000 gestiegen. Das schließt rund 1 300 nur für die Luftaufklärung bestimmte Minidrohnen vom Typ »Raven« ein, die in einen Rucksack passen und von einzelnen Soldaten gestartet werden können. Insgesamt verfügen Militär und der Auslandsgeheimdienst CIA zur Zeit nach unterschiedlichen Schätzungen über 6000 bis 7000 bewaffnete und unbewaffnete Unmanned Aerial Vehicles (UAV). Während es in der Anfangszeit der neuen Waffe noch ein Problem war, die wenigen Exemplare optimal auf die Kriegsschauplätze zu verteilen, besitzen die USA heute einen Überschuß, der geradezu nach weiteren Aufgaben zu verlangen scheint.

Geheimhaltung

Bewaffnete Drohneneinsätze der USA gibt oder gab es bisher in Afghanistan, im Irak, in Pakistan, im Jemen, in Somalia und Libyen. Das Verbreitungsgebiet unbewaffneter Aufklärungsdrohnen ist selbstverständlich erheblich größer, zumal die USA einige Typen auch an Verbündete liefern. Die »Raven«, 1,9 Kilo schwer und nicht größer als ein Modellsegler, wird von 17 Staaten außerhalb der USA eingesetzt. Sie hat allerdings nur eine sehr kleine Reichweite bis zu zehn Kilometern und kann gerade mal 90 Minuten in der Luft bleiben. Große Drohnen wie die »MQ-1 Predator« schaffen bis zu 24 Stunden und haben einen Aktionsradius von mehr als 1000 Kilometern.

Einsatzregeln, praktische Ergebnisse und sogar die Zahl der mit bewaffneten UAVs durchgeführten Angriffe unterliegen absoluter Geheimhaltung. Alle Erkenntnisse beruhen ausschließlich auf inoffiziellen Quellen, insbesondere Medien und Behörden in den Einsatzländern, sowie auf Untersuchungen von Friedensinstituten wie dem Londoner »Bureau of Investigative Journalism«, das auf seiner Webseite die ausführlichsten und präzisesten Informationen liefert. Selbst diese Stelle weiß aber wenig über die ganz konsequent verschleierten Drohneneinsätze in Afghanistan, im Irak und in Libyen.

Vergleichsweise gut ist dagegen die Informationslage in Pakistan, wo wahrscheinlich kein einziger Angriff unentdeckt und unberichtet bleibt. Nach der laufend aktualisierten Zählung des Büros gab es bis zum 16. Oktober dieses Jahres 349 Angriffe auf Ziele in Pakistan, davon 297 in der Amtszeit Obamas. Zwischen 2593 und 3365 Menschen seien getötet, zwischen 1249 und 1389 verletzt worden. Letzteres ist ein Hinweis auf die außerordentlich große Sprengkraft der Hellfire-Raketen, von denen jede »Predator« zwei Stück trägt. Im Zielobjekt gibt es kaum Überlebende.

Wahlloser Massenmord

Aufgrund einer sehr vorsichtigen Begriffsdefinition bezeichnet das Büro 474 bis 884 der Getöteten als »Zivilisten«. Unter ihnen seien 176 Kinder gewesen. Die US-Regierung leugnet den Tod von Nichtkombattanten fast bis zum Nullpunkt herunter. Das ist jedoch ohne jeden Aussagewert, da Washington keine eigenen Fakten oder auch nur Behauptungen präsentiert. Ohnehin ist eindeutig, daß die meisten Opfer keine »hochrangigen Al-Qaida-Terroristen«, sondern nur einfache örtliche Stammeskrieger waren, die eine Bedrohung für die USA weder darstellen wollten noch konnten. Lediglich von zwei bis fünf Prozent der Getöteten sind überhaupt die Namen bekannt. Der gebräuchliche Begriff »targeted killings«, gezielte Tötungen, beschönigt den real stattfindenden wahllosen Massenmord.

Daß es sich um einen solchen handelt, wird durch die Einsatztaktik der »double-tap«-Angriffe unterstrichen. Dabei folgt nach dem ersten Angriff, in der Regel auf ein Haus, im Abstand von ungefähr 30 Minuten eine zweite Drohnenattacke, die sich nun gegen die Menschen aus der Nachbarschaft richtet, die herbeieilen, um nach Überlebenden zu suchen oder die Leichen zu bergen. In einigen Fällen ließ Obama auch Trauerfeiern für Drohnenopfer oder Feste gezielt angreifen.

Weniger erforscht und übersichtlich ist die Situation im Jemen und in Somalia. Anders als in Pakistan setzten die USA in diesen beiden Ländern ihre bewaffneten Drohnen mit der offen erklärten Unterstützung der dortigen Regierungen ein. Oft ist nicht eindeutig zu unterscheiden, ob ein Angriff mit Drohnen, Cruise Missiles oder Flugzeugraketen durchgeführt wurde. Das »Bureau of Investigative Journalism« nimmt an, daß es insgesamt bis zu 138 solcher US-Operationen im Jemen gab, von denen maximal 76 Drohnenangriffe waren. Die Zahl der gemeldeten Toten liegt dieser Quelle zufolge in einer Spannbreite von 357 bis 1 038, darunter 60 bis 163 »Zivilisten«, von denen 24 bis 34 Kinder gewesen seien.

Sehr viel niedriger sind die Zahlen für Somalia. Das Londoner »Bureau« geht von bis zu 23 US-amerikanischen Angriffen mit verschiedenen Waffen aus. Mindestens drei und höchsten neun seien Drohneneinsätze gewesen. Zwischen 58 und 170 Menschen seien getötet worden, darunter bis zu 57 »Zivilisten«.

In der Region rund um das Horn von Afrika unterhalten die USA nach inoffiziellen Berichten der großen US-Tageszeitungen Drohnenstützpunkte in Dschibuti, auf den Seychellen-Inseln im Indischen Ozean, in Äthiopien und an einem nicht genannten Ort auf der arabischen Halbinsel. Darüber hinaus streben sie angeblich eine UAV-Einsatzbasis im Südsudan an. Das sind auffallend viele Stützpunkte, gemessen am derzeit noch verhältnismäßig begrenzten Einsatz bewaffneter Drohnen in dieser Region. Das Unternehmen scheint durchaus noch ausbaufähig.

Als kommender Einsatzraum für US-amerikanischer Mörderdrohnen schon in naher Zukunft zeichnet sich Nordwestafrika ab. Das Gebiet, in dem es ohnehin eine Reihe tief verwurzelter Konflikte gibt, ist durch die mit Hilfe der NATO erfolgte Zerstörung des libyschen Staates nachhaltig destabilisiert worden. Über Libyen fliegen laut Pressemeldungen wieder bewaffnete Drohnen – oder sie wurden nie abgezogen. Ihr angeblicher Auftrag: Die Unbekannten, die am 11. September das amerikanische Konsulat in Benghasi stürmten, wobei vier US-Amerikaner getötet wurden, sollen »der Gerechtigkeit zugeführt«, also ohne Prozeß zur Strecke gebracht werden. Schon jetzt unterhalten die USA in der gesamten westlichen Sahelzone ein Netz von Flugplätzen, die sie mit Zustimmung der jeweiligen Regierungen für Aufklärungsflüge kleiner einmotoriger Zivilmaschinen nutzen dürfen. Ein Ausbau für Starts und Landungen von Drohnen liegt im Bereich des in verhältnismäßig kurzer Zeit Realisierbaren.

* Knut Mellenthin ist freier Journalist und regelmäßiger Autor der jungen Welt