"Eine gut orchestrierte Hysterie"

zit.   aus "Zeitfragen"  - was auch noch gesagt werden muss (Redaktion "Hintergrund" vom 06.04.2012)

<Prof. Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 leitete er dort das Institut für Deutsche Geschichte. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind: „Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus“, Bonn 2009; „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010.>

Zum Wesen des Tabus gehört es, dass es ein Stillschweigen über etwas gebietet, was zwar gewusst oder geahnt, aber unausgesprochen bleiben muss. Das „Muss“ ist dabei einer gesellschaftlichen bzw. kulturellen Konvention geschuldet, einer Übereinkunft, der man anthropologisch oder soziologisch verschiedene Funktionen zuschreiben mag, die aber als historisch entstandene keine Absolutheit beanspruchen darf. Die Tabuübertretung ist, so besehen, der Ausbruch aus einer Konvention, der deshalb geahndet wird, weil die schiere Konvention für unantastbar erklärt worden ist. Das Problem mit dem Einhalten des Tabus beginnt indes dort, wo sich die Konvention als in partikularem Sinne interessengeleitet, mithin als im Wesen ideologisch erweist. Ein solcher Tabubruch wirkt sich als narzisstische Kränkung der Konventionsplatzhalter aus, eine aggressionsfördernde Kränkung, die sich ihrerseits dem Ärger über den – dem ideologischen Eigeninteresse der Platzhalter durch besagten Tabubruch –zugefügten Schaden verschwistert weiß.

Was hat Günter Grass gesagt, das die in Deutschland ausgebrochene Hysterie, wenn schon nicht zu begründen, so zumindest zu erklären vermöchte? Die Erwartungen können sogleich aufs Normalmaß des Diskutierbaren heruntergeschraubt werden: Nichts, was in Israel selbst nicht schon hundertfach gesagt und erörtert worden wäre.

Nichts, was man im Hinblick auf Fakten bzw. aufs begründbar Mögliche lapidar infrage stellen könnte. Zwar hat man in Israel den „Erstschlag“ in der Öffentlichkeit nirgends als nuklearen diskutiert, daher auch die „Auslöschung des iranischen Volkes“ weder thematisiert noch im Blickfeld gehabt. Dass aber Szenarien möglich sind, bei denen der Einsatz von Nuklearwaffen mitgedacht werden muss, wird niemand in Abrede stellen wollen, der Mögliches nicht tabuisieren, sondern zum Ausgangspunkt von Verwirklichbarem nehmen möchte. Sollte nämlich Israels Existenz ernsthaft bedroht sein, wird man wohl zum extremsten aller Israel zur Verfügung stehenden Mittel greifen. Die Existenz Israels wird aber nicht durch die (potentielle) iranische Atombombe bedroht – es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Mullah-Staat sie gegen Israel einsetzen würde, wenn er nicht das Risiko eingehen möchte, innerhalb weniger Tage selbst in Schutt und Asche gelegt zu werden –, sondern durch die nichtnukleare Dynamik des Krieges, der nach einem nichtatomaren Präventivschlag Israels gegen den Iran folgen dürfte. Darüber haben israelische Militär- und Geheimdienstleute in den letzten Wochen mehr als genug gesagt. Gewiss ist nichts, aber ein mehrwöchiger oder -monatiger Krieg, bei dem Israel den Iran verwüstet, zugleich aber auch israelische Städte einem täglichen Beschuss durch Langstreckenraketen (welche die irakischen Scud-Raketen von 1991 wie ein Kinderspiel erscheinen lassen würden) ausgesetzt sind, dürfte für Israel in vielerlei Hinsicht kaum verkraftbar sein. Eine solche Kriegsdynamik, welche in der Tat den Einsatz israelischer Nuklearwaffen zur Folge haben könnte, wäre nicht das Resultat der realen Bedrohung Israels durch die (vorerst noch nicht existierende) iranische Atombombe, sondern das Ergebnis des von Israel initiierten konventionellen Erstschlags.

Auch dass die Atommacht Israel den „ohnehin brüchigen Weltfrieden“ gefährdet, wie Grass behauptet, muss man nicht als das Resultat eines von Israel direkt und bewusst durchdachten Plans verstehen, sondern als Auswirkung einer Politik, die Israel in einem Kontext betreibt, der sich schon oft genug als bedrohlich für den Weltfrieden erwiesen hat. Dass Israel sich dabei (sehr früh schon) Nuklearwaffen zugelegt hat, kann zum einen als Abschreckungssystem gegen seine Existenzbedrohung begriffen werden – der zionistische Staat war nun einmal nicht willkommen in der Region, in der er gegründet wurde und sich erfolgreich etabliert hat –, zum anderen als gravierender Faktor in jenem Kontext, in welchem die Existenzbedrohung des Staates zum integralen Bestandteil seiner eigenen Politik, mithin seines ideologischen Selbstverständnisses heranwuchs. Denn Angelpunkt des gesamten Problems der Existenzbedrohung Israels ist nicht die von den in periodischen Gewaltausbrüchen verwendeten Waffen ausgehende Gefahr, sondern der Nahostkonflikt mit seinem Herzstück, dem historischen Territorialkonflikt von Israelis und Palästinensern. Wer nicht begreifen will, dass die Bedrohung Israels durch die Saddam Husseins und die Ahmadinedschads der Region in erster Linie durch den (noch) ungelösten Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erst eigentlich möglich wird, muss sich vorhalten lassen, dass sein Gerede über die Existenzbedrohung Israels, gar über eine Israel drohende „zweite Shoah“ manipulativ-ideologischen Charakters ist. Aber genau darin übt sich die israelische Politik schon seit Jahrzehnten: Israel will den Frieden mit den Palästinensern nicht, denn dieser ist ohne Abzug aus den besetzten Gebieten nicht zu haben; es betreibt ganz gezielt und intensiv die Besiedlung palästinensischen Landes, unterjocht dabei die Bewohner und bedient sich perfidester Ideologisierung dieses Grundumstands, indem es seine eigene Nichtbereitschaft zum Frieden auf die von ihm unterdrückten und geschundenen Palästinenser projiziert. Von einer Symmetrie kann dabei nicht die Rede sein: Israel beherrscht ja das, was einzig zum Ausgangspunkt eines Friedensabkommens genommen werden kann; in Israels Hand ist es, ein solches Abkommen real voranzutreiben. Israel will dies aber nicht; den Staatsmann, der es (vielleicht) wollte, hat man mörderisch beseitigt. Die gegenwärtige Regierung Israels übt sich im Lippenbekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung, welche sie aber selbst systematisch unterminiert. Die Rhetorik des „großmäuligen“ Ahmadinedschad kommt einem Netanjahu in diesem Zusammenhang zupass: genau diese kann er gebrauchen, um durch das Hochspielen der Existenzbedrohung Israels mittels einer (nicht existierenden) iranischen Atombombe vom eigentlichen, primär durch Israel perpetuierten Kernproblem gewieft abzulenken. Vor AIPAC kann er entsprechend als Verhinderer einer „zweiten Shoah“ auftreten (und hoch bejubelt werden), aber gerade darin ist das von diesem Premier repräsentierte Israel objektiv eine Bedrohung für den Weltfrieden.

Das alles ist wohlbekannt, und wenn auch nicht allseits akzeptiert, so doch keine markerschütternde Neuigkeit im Diskurs. Was also hat „die Deutschen“ bzw. die hegemoniale Sphäre der deutschen Öffentlichkeit an Grassens Gedicht so aufgewühlt? Die Antwort darauf liegt nicht im Inhalt des Poems (auch nicht in der Tatsache, dass Grass sich dieses Genre zum Medium seiner Aussage gewählt hat), sondern schier in der Tatsache, dass er einen Tabubruch begangen hat, namentlich ausgesprochen hat, was nach vorherrschender „deutscher“ Norm unausgesprochen bleiben muss. Grass kann sich dabei noch so sehr auf eine von Goethe über Heine bis Brecht laufende Tradition des politischen Gedichts berufen – die hilft ihm nichts: Schon Heine wusste, dass er von seinem Exilland Frankreich nicht nach Deutschland zurückkehren sollte, weil er „Erschießliches“ geschrieben hatte. Das Erschießliche in Deutschland hat sich freilich seit Heines Zeiten gewandelt – und wohl auch die Exekutionskommandos: Eine Konstellation aus enthusiasmierten Israelsolidarisierern „antideutscher“ (letztlich neokonservativer) Provenienz, einer stets abrufbereiten „jüdischen Intelligenz“ (professoraler, publizistischer und offiziell-institutioneller Couleur), einer unter dem geschichtlich konnotierten Tabu keuchenden politischen Klasse, einer in diesem Punkt in der Tat „gleichgeschalteten“ deutschen Medienwelt und einer aktivistisch-durchideologisierten israelischen Botschaft bildet stets eine durch den Eklat gestählte Front, sobald ein Ausscherender etwas, und sei‘s noch so kümmerlich, an ihrer Selbstgewissheit kratzt. Sigmar Gabriel durfte keine 48 Stunden, nachdem er ein israelisches Apartheid-Regime in Hebron gewahrte, wieder kräftig zurückrudern. Dieter Graumann (und die israelische Botschaft) mochte nicht, was er da aus der SPD-Spitze vernahm. Das genügte. Die israelische Botschaft selbst kennt keine Beschränkungen: Es gehöre zur europäischen Tradition, Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmordes anzuklagen. Grass’ Gedicht also vergleichbar mit infam-horrenden, mörderische Gewalt erzeugenden Praktiken im Verlauf der jahrhundertealten jüdischen Leidensgeschichte. Es ist schon bemerkenswert, wie gerade in jüdischem (vor allem jüdisch-israelischem) Munde die historische Leiderfahrung der Juden banalisiert wird und zum Mittel niedrigster Polemik verkommt. Aber was will man schon von Israels – einer Avigdor Lieberman unterstellten – Botschaft, wenn sich „sein“ Ministerpräsident nicht entblödet, Israels Lage im Jahre 2012 mit der von Juden in Auschwitz zu vergleichen bzw. die Unterlassung des US-amerikanischen Militärangriffs auf Iran der Nichtbeschießung des Vernichtungslagers während der Shoah gleichzustellen?

Nun kann man einwenden: quod licet Iovi non licet bovi. Das stimmt aber nur, wenn man das „non licet“ nicht nur den Ochsen, die einem ideologisch nicht genehm sind, auferlegt, sondern auch jenen Ochsen, die sich anmaßen, einmal selbst Jupiter sein zu wollen. Jene in Deutschland, die sich mit einem Israel solidarisieren, das dabei ist, sich selbst zugrunde zu richten, sind nicht befreit von der Last, objektiv zu befördern, wogegen sie sich vorgeblich in ihrer Solidarität richten. Dass sie sich von ihren pro-israelischen Befindlichkeiten aus geschichtlichen Gründen nicht loslösen können, sei ihnen nachgesehen – das neuralgische Verhältnis von „Juden und Deutschen“ nach dem Holocaust wird sich nicht so schnell „kurieren“ lassen (vor allem aber sollte man sich vom Gedanken, etwas „wiedergutmachen“ zu sollen, tunlichst verabschieden). Eine ganz andere Sache ist es aber, sich die Befindlichkeit durch den Antisemitismus-Vorwurf zurecht zu ideologisieren. Man verrät stets die historischen Opfer des Antisemitismus (besonders die des deutschen eliminatorischen), wenn man diesen Begriff allzu unbeschwert in den Mund nimmt, um sich in seinem eigenen identitären Defizit besser zu positionieren. Günter Grass ist kein Antisemit (auch nicht „objektiv“ oder „sekundär“, wie es im armseligen deutschen akademischen Diskurs in den letzten Jahren zu diesem Begriff heißt). Man mag vieles an Grass aussetzen, nicht zuletzt auch eine Selbstgefälligkeit, die nicht davor zurückschreckt, von „letzter Tinte” zu reden. Aber ein Antisemit ist er nicht – es sei denn in den Augen der Broders, Graumanns, Giordanos und Wolffsohns, denen das Wohl Israels so am Herzen liegt, dass sie Israel – aus angemessener Entfernung! – emphatisch „in Schutz“ nehmen, um sich für sein Wohl umso effektiver blind machen zu können. Wer nicht zwischen Antisemitismus und berechtigter Israelkritik zu unterscheiden vermag, sollte zumindest bescheidener auftreten, wenn er selbstgewisse Verdikte ausspricht: das Jahrzehnte alte Okkupationsregime Israels (und andere Erscheinungen im israelischen Alltag, die hier unerörtert bleiben mögen) straft die schablonenhafte Larmoyanz dieser „Israel-Solidarität“ Lügen. Die in Deutschland lebende „jüdische Intelligenz“ ist die letzte, die den Anspruch erheben könnte, sich um Israel realiter Sorgen zu machen: zu sehr reagiert sie komplementär zum befindlichkeitsschwangeren Diskurs der nichtjüdischen „Deutschen“. Grass seine jugendliche SS-Vergangenheit anzulasten, ist eine Sache; eine ganz andere, ihn zum Antisemiten zu machen, um ein menschenrechtsverletzendes Israel zu verteidigen.

Günter Grass beklagt die Belieferung Israels mit einem „weiteren U-Boot“ durch Deutschland. Er erinnert sich vielleicht nicht, dass das U-Boot-Abkommen mit Israel ein Erbteil der Schadensabwicklung im 1991er-Golfkrieg ist, als „wiedergutgemacht“ werden sollte, dass „Deutsche“ Saddam Husseins Waffenindustrie mit „Gas“ beliefert hatten. Er spricht davon, dass „wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten“. Schon damals durfte man sich wundern: Zu beklagen galt es doch nicht, dass „Deutsche“ Saddam Husseins Waffenarsenale belieferten, sondern die globale Waffenindustrie (an der Israel übrigens selbst massiv beteiligt ist), die im kapitalistischen System auch vor dieser Form der Profitmache keinen Halt macht. Im Jahre 1991 konnte man sich fragen, wie der Tauschwert an in der Shoah vernichtetem jüdischen Leben für ein U-Boot verrechnet wird. Zwanzig Jahre später mag sich die Frage (wie freilich damals schon) anders stellen. Die deutsche Befindlichkeit hat sich seither nicht verändert, dafür die objektive Konstellation ihrer Manifestationen. Um dies zu ergründen, bedarf es allerdings einer Kapitalismuskritik, für die eine gestandene SPD-Gesinnung wohl kaum reicht.