Redebeitrag von Bernd Hahnfeld auf den Bonner Friedenstagen am 2. September 2021
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1)  Ein kurzer Ausflug in die Geschichte - Archäologisches Museum Istanbul: eine Ton-Tafel aus dem Jahre 1.270 v. Chr. – in Keilschrift ein Friedensvertrag zwischen dem ägyptischen Pharao Ramses II und dem Großkönig der Hethiter Hattusili III. Dieser beendet Krieg, regelt Angriffsverbot, ist paritätisch zwischen beiden Herrschern, regelt friedliches Zusammenleben. Schlussformel: Bei Vertragserfüllung Wohlergehen für alle im Schutze der Götter; bei Vertragsverletzung Vernichtung des Rechtsbrechers und seines Landes. Vor 3.290 Jahren ein völkerrechtlicher Vertrag!

Vertragliche Beziehungen von Herrschaftsverbänden durchziehen die Geschichte, die griechische Polis, die römischen, karthagischen und mazedonischen Reiche, chinesische Herrschaftsverbände.

Im europäischen Mittelalter waren Fürsten nicht fähig zu vertraglichen Beziehungen.

Auch in der Neuzeit hatten nur Herrscher vertragliche Beziehungen, nicht die Völker. Ein humanitäres Völkerrecht (VR) entstand erst ab Ende des 19. Jh. mit der Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907. Diese betonte die Unterscheidung von Kombattanten und Nicht-Kombattanten und deren Schutz. Gleichzeitig wurden die Genfer Rot-Kreuz-Abkommen zum Schutze der Verwundeten und Kriegsgefangenen vereinbart.

Eine große zivilisatorische Errungenschaft war 1945 in Nachfolge des Völkerbundes die Gründung der Vereinten Nationen mit der UN-Charta. Waffengewalt durfte ein Staat nur noch in Notwehr anwenden. Streitigkeiten sollten durch Verhandlungen oder vor Gericht geklärt werden.

1977 entstanden die Zusatzprotokolle zum Rot-Kreuz-Abkommen. Diese regelten – teils gegen den Widerstand der Atommächte - umfangreiche Waffenverbote.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich das allgemeine, d.h. universelle Völkerrecht. Das Völkergewohnheitsrecht gehört dazu. Es gilt für alle Staaten, unabhängig von Verträgen. Manches Vertragsrecht ist inzwischen Gewohnheitsrecht geworden, z. B. Vorschriften der UN-Charta und der Rot-Kreuz-Abkommen.

2)   Für die Beantwortung der uns gestellten Frage sind vor allem maßgebend: Das mit der UN-Charta 1945 geschaffene Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta) und das ebenfalls gewohnheitsrechtlich geltende humanitäre Völkerrecht gemäß dem Zusatzabkommen zum Rot-Kreuz-Abkommen. Dieses verbietet Waffen, die nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheiden, Waffen, die unnötige Leiden verursachen und Waffen, die unbeteiligte Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Damit sind wir bei den Atomwaffen. Die können das nämlich nicht. Sie treffen unterschiedslos alle Lebewesen im Zielgebiet, verstrahlen Überlebende und die Umwelt radioaktiv und senden durch Winde den Fall-Out in die Nachbarländer. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem für die UN-Generalversammlung erstatteten Gutachten am 8.7.1996 klargestellt: Der Einsatz von Atomwaffen und seine Androhung sind völkerrechtlich verboten. Das gilt auch für alle denkbaren Notwehrfälle. Wenn Staaten angegriffen werden, sind sie nicht frei in der Wahl ihrer Verteidigungs-Waffen. Denn sie dürfen sich nur mit Waffen verteidigen, die das humanitäre Völkerrecht nicht verbietet. Verboten sind laut IGH Atomwaffen, weil

-        ihre Wirkung nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheidet,

-        ihre radioaktive Strahlung unnötige Qualen verursacht,

-        sie Schäden an der Umwelt und den Lebensgrundlagen der Menschen für zukünftige Generationen verursachen und

-        sie durch den grenzüberschreitenden Fall-Out neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Das ist einfach zu verstehen. Dennoch behaupten die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten das Gegenteil. Vor den Internationalen Gerichtshof haben sie sich darauf berufen, dass sie neue, kleine, angeblich saubere Atomwaffen entwickeln. Das ist jedoch nicht denkbar, denn wenn solche Waffen keine radioaktive Strahlung freisetzen, sind es keine Atomwaffen.

Der Einsatz von Atomwaffen verletzt auch das Menschenrecht auf Leben nach Art. 6 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt). Dieser ist 1976 in Kraft getreten und auch in bewaffneten Konflikten anzuwenden. Wörtlich: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“ Deutschland ist diesem Pakt beigetreten.

Das Völkerrecht ist kein Recht der Völker im eigentlichen Sinn, sondern ist ein von Regierungen und Rechtswissenschaftlern ausgehandeltes Recht der Staaten. Bei den Vertragsverhandlungen versuchen Regierungen zu vermeiden, sich selbst juristische Fesseln aufzuerlegen oder sogar für politisches Regierungshandeln in die Gefahr einer Strafverfolgung zu geraten.

Die Rechtsquellen des Völkerrechts sind nach Art. 38 IGH-Statut

- internationale Verträge,

- das internationale Gewohnheitsrecht und

- allgemeine Rechtsgrundsätze.

Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind nach Art. 25 GG vorrangiger Bestandteil des Bundesrechts. Das humanitäre Völkerrecht gehört dazu! D.h. es verpflichtet unmittelbar die Bundesregierung und alle staatlichen Instanzen und schränkt ihren rechtlichen Handlungsspielraum ein.

Die Tatsache, dass Regierungen gegen das Völkerrecht verstoßen, macht dieses nicht weniger verbindlich. Häufig berufen sich Regierungen zu Unrecht auf neues, abweichendes Völkergewohnheitsrecht. Dieses entsteht jedoch nur bei einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung (Art. 38 Abs.1 b IGH-Statut), d.h. wenn eine längerdauernde Staatenpraxis und die Überzeugung der Staaten, damit geltendes Recht anzuwenden, nachgewiesen wird.

Wie kann das Völkerrecht durchgesetzt werden? Hier zeigt sich das Defizit des Völkerrechts. Vollzugsorgane sind in der UN-Charta nicht vorgesehen. Lediglich dem UN-Sicherheitsrat sind Machtbefugnisse eingeräumt worden. Er könnte nach Art. 39 UN-Charta die Atomwaffenrüstung als Bedrohung des Friedens feststellen und Maßnahmen nach Kapitel 7 gegen die Verursacher einleiten. Das ist jedoch illusorisch, weil alle fünf Veto-Staaten gleichzeitig Atomwaffenstaaten sind und ihre Atomwaffen auch behalten wollen.

 

3)   Der Einsatz von Atomwaffen ist ein Völkerrechtsverbrechen nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichthofs. Ob bereits die einsatzbereite Stationierung von Atomwaffen der Versuch eines völkerrechtlichen Verbrechens ist oder ob es sich dabei nur um eine straflose Vorbereitungshandlung handelt, ist eine schwierige Abgrenzungsfrage und letztlich eine Frage der juristischen Bewertung. Ich persönlich meine, dass in einer Zeit internationaler Spannungen und wechselseitiger – auch atomarer - Bedrohungen sowie angesichts der realitätsnahen Einsatz-Übungen gegen Nachbarstaaten von dem „Beginn der Ausführungshandlung“ gesprochen werden muss, also von dem Versuch eines Völkerrechtsverbrechens.

Wegen Verstoßes gegen das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) können nur Vertragsstaaten Verfahren einleiten. Bürger haben das Recht nicht.

 

4)   Die Bundesregierung hat der nuklearen Teilhabe und der Stationierung von Atomwaffen in Büchel ausdrücklich zugestimmt und hält diese Zustimmung auch aufrecht. Eine gesetzliche Grundlage dafür fehlt. Die nukleare Teilhabe ist lediglich ein Teil des Strategischen Konzeptes der NATO, das zwischen den Bündnis-Staaten abgesprochen worden ist. Es ist laut BVerfG weder ein förmlicher noch ein konkludent zustande gekommener Vertrag. Im NATO-Vertrag werden Atomwaffen nicht erwähnt. M.E. hätte die Bundesregierung der nuklearen Teilhabe keinesfalls ohne einen Beschluss des Bundestages zustimmen dürfen. Denn die Stationierung und der eventuelle Einsatz der Atomwaffen in Büchel sind für das gesamte Land und die Bevölkerung von existentieller Bedeutung. Deshalb wäre dafür ein förmliches Gesetzgebungsverfahren zwingend nötig gewesen. Aber offensichtlich will man die öffentlichen Debatten darüber vermeiden.

Bundestagsfraktionen haben jedoch die Möglichkeit wegen Verletzung ihrer verfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechte vor dem BVerfG eine Organklage zu erheben. Die „Mutlangen-Entscheidung“ des BVerfG steht dem nicht entgegen. 1993 hatte das BVerfG entschieden, dass die Stationierung von atomaren Pershing II und Cruise Missiles der deutschen Staatsgewalt nicht zuzurechnen sei, weil diese keine Herrschaft über die Folgen des Einsatzes der Waffen hat. Die nukleare Teilhabe unterscheidet sich davon jedoch, weil die Bundesregierung die Stationierung der B 61-Bomben in Büchel und ihren Einsatz ausdrücklich gewollt hat und Soldaten der Bundeswehr die Atombomben mit deutschen Tornado-Flugzeugen zum Einsatzort fliegen und abwerfen.

Die Abgeordneten des Bundestages sind aber auch nicht gehindert die nukleare Teilhabe eigenmächtig durch ein entsprechendes Gesetz beenden. Bislang haben sich die Abgeordneten auf die Erklärung vom 26.3.2010 (17/1159) beschränkt. Mit dieser fordert der Bundestag die Bundesregierung fraktionsübergreifend auf, sich im NATO-Bündnis und gegenüber den amerikanischen Verbündeten mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen. Nachdrückliche Bemühungen der Bundesregierung in dieser Richtung sind jedoch nicht erkennbar. Dabei wäre sie rechtlich nicht gehindert, die nukleare Teilhabe formlos durch Mitteilung an die NATO-Verbündeten zu beenden. Denn der NATO-Beistand bleibt auch durch konventionelle Verteidigung gewährleistet.

 

5)   Welche Möglichkeiten hat der Bürger gegen die Atombomben-Stationierung in Deutschland vorzugehen?

5.1.   Der Einsatz von Atomwaffen ist strafbar nach dem Völkerstrafgesetzbuch und dem Strafgesetzbuch. Diese Verbrechen kann in Deutschland jedermann anzeigen. Ob bereits die einsatzbereite Stationierung der Atomwaffen ein versuchtes Verbrechen ist, das ist – wie bereits dargelegt - eine juristische Bewertungsfrage.

5.2.   Jeder Bürger kann zivilen Widerstand durch symbolische Rechtsverletzungen leisten und dadurch die Einleitung eines Strafverfahrens gegen sich selbst erreichen. In diesen müssen die Richter auch alle völker- und verfassungsrechtlichen Fragen prüfen, soweit diese entscheidungserheblich sein können. Das geschieht oft unzureichend, weil Richter im Völkerrecht häufig wenig bewandert sind.

Erst wenn die Verurteilten alle Rechtmittel ausgeschöpft haben, können sie Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einlegen. Dieses prüft, ob die Verurteilten durch die Verfahren oder durch den Urteilsspruch in ihren Grundrechten verletzt worden sind. Das BVerfG ist keine letzte Tatsacheninstanz. Es prüft ausschließlich die vorgetragenen und sorgfältig begründeten verfassungsrechtlichen Rügen. 98 % der Verfassungsbeschwerden scheitern, viele am unzureichenden Sachvortrag.

Bisher haben die Strafgerichte in den Verfahren gegen Atomwaffengegner abgelehnt, deren Handeln durch Notwehr- oder Nothilfe als gerechtfertigt anzusehen. Das ist m.E. nicht richtig. Denn jeder Einsatz von Atomwaffen ist rechtswidrig und schädigt Menschen. Jeder Mensch, der davon bedroht ist, hat das Recht den rechtswidrigen Angriff auf sein Leben durch Notwehr abwehren.

Nur wenn der Angriff gegenwärtig ist, darf Notwehr ausgeübt werden, d.h. der Angriff muss unmittelbar bevorstehen. Droht in einer militärischen Auseinandersetzung der Einsatz von Atomwaffen, haben die Betroffenen keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten mehr, wenn der Einsatzbefehl erteilt worden ist. Der Schaden entsteht dann durch die Tötungen und Zerstörungen entweder durch einen Erstschlag des Gegners am Stationierungsort der Atomwaffen oder durch den nahezu sicheren atomaren Gegenschlag. Notwehr muss also, wenn sie nicht ausgeschlossen sein soll, vor dem Einsatzbefehl möglich sein.

Wann die Notwehrlage eintritt, ist eine juristische Bewertungsfrage. Ich meine, dass sie vorliegt, wenn die Atomwaffen einsatzbereit stationiert sind, ihr Einsatz regelmäßig unter realistischen Bedingungen geübt wird, die internationalen Beziehungen zu den Zielstaaten sich drastisch verschlechtern und der Einsatz von Atomwaffen angedroht wird, wie kürzlich von dem US-Präsidenten Biden im Falle eine Cyberangriffs auf die US-amerikanische Infrastruktur. Die NATO trägt dazu bei, die Spannungen zu verschärfen. Laut einer Meldung der FAZ übten bei der NATO-Übung „Steadtfast Noon“ im letzten Herbst Bundeswehrsoldaten in Büchel den Atombombeneinsatz gegen Russland.

Die Notwehrhandlung muss geeignet sein, den Angriff abzuwehren. Ein unmittelbarer Eingriff in die politischen und militärischen Befehlsstrukturen ist den Betroffenen nicht möglich. Ihre symbolischen Regelverstöße aber sind geeignet die Verantwortlichen aufzurütteln, ihnen ihr illegales Verhalten bewusst zu machen und sie zur Beendigung der nuklearen Bedrohung zu veranlassen.

Ziviler Widerstand durch symbolische Rechtsverstöße kann auch als straflose Notstandshandlung gerechtfertigt oder entschuldbar sein. Die Protestaktionen sind geeignet, Gefahren für Leben oder Leib abzuwenden, wenn die Verantwortlichen damit veranlasst werden können, ihre atomare Verteidigungsstrategie zu beenden.

5.3.  Die von einem Atomwaffeneinsatz unmittelbar Betroffenen haben die Möglichkeit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht. Mit der Klage kann beantragt werden die Bundesregierung zu verurteilen, ihre Zustimmung zur Atomwaffen-Stationierung zurückzunehmen und die nukleare Teilhabe zu beenden. Eine solche Klage ist nur zulässig, wenn der Kläger geltend machen kann, dass er durch die Zustimmung der Bundesregierung in seinen Rechten verletzt ist.

Die in der Nähe des Standortes Büchel lebenden Menschen sind in einem mit Atomwaffen geführten Krieg Ziel eines atomaren Angriffs oder Gegenschlags. Damit sind ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit konkret gefährdet. Meines Erachtens spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, dass die Gefährdung oder der Schaden durch einen anderen Staat verursacht würde. Wesentliche Ursache des Angriffs oder Gegenschlags wäre die Atombomben-Stationierung bzw. der von Büchel gestartete atomare Angriff. Beides wären eine „conditio sine qua non“ für die Schädigung und für die aktuelle Gefährdung.

Die Entscheidung des BVerfGs zur Pershing II-Stationierung, dass der deutschen Staatsgewalt die Folgen ihrer Zustimmung nicht zuzurechnen sind, weil sie keine Herrschaft über den Eintritt dieser Folgen hat, ist auf die nukleare Teilhabe nicht anzuwenden. Denn die nukleare Teilhabe als Teil der Nuklearstrategie der NATO wird von der Bundesregierung ausdrücklich gewollt und aktiv unterstützt. An Entscheidungen über den NATO-Einsatz von Atomwaffen ist die Bundesregierung beteiligt. Der Einsatz selbst erfolgt durch Bundeswehrsoldaten. Deshalb hat sie sich auch die Folgen zurechnen zu lassen.

Ein materieller Anspruch könnte sich aus dem Grundrecht der Schutzpflicht des Staates und seiner Organe nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergeben. Demnach ist der Staat verpflichtet, sich schützend vor gefährdetes menschliches Leben zu stellen und es vor rechtswidrigen Eingriffen zu bewahren. Rechtswidrig ist das Regierungshandeln, weil die Bundesregierung ihre Zustimmung zur Stationierung von Atomwaffen erteilt hat und aufrechterhält, obwohl Atomwaffen nach dem humanitären Völkerrecht nicht eingesetzt werden dürfen. Ihre Stationierung in Büchel oder der Einsatz wären Ursache für den atomaren Angriff oder Gegenangriff auf Büchel. Die Gefährdung oder Schädigung von Leib und Leben der Anwohner kann nur verhindert werden, wenn die Zustimmung zur Stationierung zurückgenommen wird und die Atomwaffen abgezogen werden.

Rechtswidrig ist die Stationierung der Atomwaffen in Büchel auch aus einem weiteren Grund. Der Nichtverbreitungsvertrag (NPT), dem Deutschland 1974 beigetreten ist, verbietet Deutschland die Verfügung oder Mitverfügung über Atomwaffen. Diese wird aber beim Einsatz durch deutsche Soldaten unvermeidbar ausgeübt. Auch in einem atomaren NATO-Einsatz bleiben die Bundeswehrsoldaten deutsche Hoheitsträger, die nach dem Start ihrer Tornado-Flugzeuge zumindest eine Mitverfügung über die Atomwaffen erlangen.

Ein zweiter materieller Anspruch der Bewohner der Region Büchel gegen die Bundesregierung könnte sich aus Art. 25 Satz 2, 2. Alt. GG ergeben. Demnach erzeugen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets. Das humanitäre Völkergewohnheitsrecht gehört zu diesen Regeln ebenso wie das Gewaltverbot der UN-Charta. Angesichts der Drohungen des US-Präsidenten Biden mit einem atomaren Angriff als Antwort auf einen Cyberangriff gegen die US-Infrastruktur hat die Atomwaffenstationierung in Büchel eine neue Bedeutung bekommen. Als Teil der NATO-Strategie wäre die nukleare Teilhabe in eine militärische Auseinandersetzung der USA mit Russland oder China zwangsläufig einbezogen. Die aktuellen Einsatzübungen eines atomaren Angriffs auf Russland stützen diese Feststellung.

Die Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz ist laut IGH ein Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta und gegen das humanitäre Völkergewohnheitsrecht. Sie stellt eine konkrete Gefährdung der Anwohner von Büchel und Umgebung dar und verletzt ihr Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Bundesregierung ist in der Lage und verpflichtet, die Gefährdung der Menschen zu beenden und Schaden zu verhindern. Deswegen ist sie verpflichtet, die nukleare Teilhabe zu beenden und die Zustimmung zur Atomwaffen-Stationierung zurückzunehmen. Das hat sie auch wegen Verstoßes gegen den Nichtverbreitungsvertrag zu tun.


Ist die Klage vor den Verwaltungsgerichten durch alle Instanzen verloren, steht der „Weg nach Karlsruhe“ offen. Auch insofern gilt: Das BVerfG ist keine neue Tatsacheninstanz. Es prüft nur ausdrücklich gerügte, durch die Verfahren oder die Klageabweisung erfolgte Verletzungen der Grundrechte der Kläger. Die Verwaltungsgerichte haben Elke Kollers Klage abgewiesen, weil sie unzureichend begründet worden sei. Das lässt sich mit dem Wissen von heute besser machen. Das BVerfG hat in der Sache nicht entschieden. Es hat die Verfassungsbeschwerde Elke Kollers gar nicht zur Entscheidung angenommen. Also ist eine neue Verfassungsbeschwerde zur nuklearen Teilhabe möglich. Leider neigt das ansonsten hochprofessionelle BVerfG in Fragen zum NATO-Bündnis und der Atomwaffenstationierung dazu, die Entscheidungen der Bundesregierung um fast jeden Preis zu rechtfertigen.

Hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, bleibt die Möglichkeit, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Verletzung der Menschenrechte zu rügen. Der Gerichtshof hat Grundsätze entwickelt, unter welchen Voraussetzungen ein Staat nach Art. 1 EMRK für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Deutschland ist mitverantwortlich für die Folgen der Atomwaffenstationierung auf seinem Territorium, weil es diese ausdrücklich gebilligt hat und sich am Einsatz beteiligt. Deshalb kann die Anrufung des EGMR Erfolg haben.


6)   Der am 22.1.2021 in Kraft getretene Atomwaffenverbotsvertrag kann noch keine Anspruchsgrundlage für eine Klage gegen die Bundesregierung sein. Er ist nur in den Vertragsstaaten und unter ihnen verbindlich. Die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten gehören nicht dazu. Deutschland ist dem Vertrag (noch) nicht beigetreten. Völkergewohnheitsrecht ist durch den Vertrag nicht entstanden. Dennoch ist der Atomwaffenverbotsvertrag ein Meilenstein und ein großer Erfolg der Atomwaffengegner weltweit. Er zeigt, dass die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten eine kleine radikale Minderheit sind. Diese hält mit ihrer Atomwaffenrüstung die große Mehrheit der Weltbevölkerung für ihre Ziele in Geiselhaft. Gegen Recht, Ethik und Moral.

 

7)   Die Wirkung von Völkerrecht beruht wesentlich auf seiner Effektivität. Diese hängt ab von einem Mindestmaß an normgerechten Verhalten der Staaten. Insoweit wirken zwei Momente:

- die Erwartung der Gegenseitigkeit, also ein langfristig unabweisbares Interesse der Staaten an der gegenseitigen Einhaltung festgelegter Verhaltensmuster und

- die öffentliche Meinung. Selbst Großmächte versuchen zu vermeiden, vor der Weltöffentlichkeit mit dem Odium des Rechtsbrechers belastet zu werden (Ausnahmen inbegriffen). Das ist eine Botschaft auch an die Friedensbewegung, die Regierungen weiterhin für ihre grundrechts- und menschenrechtsfeindliche Atomwaffen-Politik und ihre doppelten Standards an den Pranger zu stellen. Die Bundesregierung verlangt von anderen Regierungen Rechtstreue, bricht aber selbst das Völkerrecht.

 

Bonn, am 2. September 2021