Gerhard Baisch: Wie weiter mit dem Whistleblowerschutz in Deutschland?

  1. Nachdem Deutschland jahrelang hinhaltenden Widerstand gegen die Whistleblower-Richtlinie der EU von 2019 geleistet hatte, hat die EU den deutschen Gesetzgeber mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens und der Androhung von Zwangsgeldern zum Handeln gezwungen.
  2. Nun haben wir ein Hinweisgeberschutzgesetz. Aber nicht das Whistleblowerschutzgesetz, wofür Dieter Deiseroth, die IALANA , die VDW und viele andere sich eingesetzt haben. Man weiß nicht recht, ob das Gesetz zum Schutz von Whistleblowern oder eher zum Schutz vor Whistleblowern verfasst wurde. Schon § 1 HinwGSchG ist insoweit entlarvend, wenn in den Absätzen 1 und 2 gleichermaßen der Schutz der Hinweisgeber:innen und der Schutz der „von der Meldung betroffenen Personen“, also der angezeigten Übeltäter, angestrebt wird. Hinzu kommt, dass nicht alle Hinweisgeber geschützt werden, sondern nur diejenigen, die „an die vorgesehenen Meldestellen“ melden oder in den wenigen „erlaubten“ Fällen an die Öffentlichkeit gehen.
  3. Die Ampelkoalition hat das von der CDU gezielt verschleppte Gesetz als Pflichtaufgabe übernehmen müssen. Ihr FDP-Justizminister, dessen Partei sich zwei Jahrzehnte lang gemeinsam mit den Christdemokraten für die Verhinderung des Gesetzes eingesetzt hatte, hat es am Ende noch deutlich verwässert. Die Grundstruktur des Gesetzes ist jetzt: Whistleblowerschutz schaffen, wenn und soweit es die Unternehmen nicht viel kostet und nicht anderweitig schadet. Umstrittene Bereiche wie Offenlegung von als geheim klassifizierten Dokumenten oder von Dokumenten aus dem Sicherheitsbereich insgesamt ausklammern, um Konflikte mit der Verwaltung und den Geheimdiensten zu vermeiden. Bei Rechtsbrüchen und Missständen in Verwaltungen und Betrieben unerwünschte Veröffentlichungen in der Presse oder in den sozialen Medien möglichst verhindern. Unter diesen Prämissen wird der Schutz für Whistleblower:innen nur in sehr engen Grenzen und nur halbherzig gesichert. Das Gesetz ist damit bezeichnend für die Ambivalenz, mit der Whistleblower:innen hierzulande immer noch begegnet wird („Helden oder Denunzianten?“). Man kann zu Recht bezweifeln, dass es viel bewirken wird. So besteht die Gefahr, dass bei Missständen auch künftig nicht hingeschaut oder jedenfalls geschwiegen wird.
  4. Deutschland war schon fortschrittlicher. Erinnert sei an die klare Regelung in Art. 118 der Weimarer Reichsverfassung von 1919:
  5. „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.“
  6. Der gesellschaftliche Schaden, der durch nicht aufgedeckte Missstände und gemeinschädliche Rechtsverstöße entsteht, liegt in Deutschland jährlich im Milliardenbereich1. Er könnte verhindert oder erheblich verringert werden, wenn Whistleblower:innen öffentlich zum Alarmschlagen ermuntert werden und ihr Verhalten sichtbar gewürdigt und belohnt wird. Gesellschaftliche Solidarität würde sie ermutigen. Hilfreich wäre z.B., wenn der Bundespräsident regelmäßig einer Whistleblowerin oder einem Whistleblower das Bundesverdienstkreuz verleihen würde. Öffentlich könnte er ihr beispielhaftes Wirken positiv hervorheben. – Die Bundesregierung könnte einen Fonds schaffen, der all denen, die nach ihrem Whistleblowing trotz Benachteiligungsverboten ihre Anstellung verloren haben und mit ihren Familien in Not geraten sind, rasch und großzügig helfen könnte. – Das Wirtschaftsministerium könnte eine Anzeigenkampagne auflegen, in der zum Melden von Fehlentwicklungen aufgefordert und Whistleblowing positiv gewürdigt wird.
  7. In einem aufgeschlossenen, mit Whistleblower:innen solidarischen Umfeld könnten Bedingungen für eine Verbesserung des HInweisgeberschutzgesetzes gegeben sein. Wie sollte das derzeitige Gesetz geändert werden?
  8. § 1 des Änderungsgesetzes sollte als Grundsatz enthalten, dass Whistleblowerschutz statuiert wird, um die Meinungs- und Pressefreiheit zu gewährleisten und die gesellschaftliche Mitwirkung der Menschen im demokratischen Prozess zu stärken. Unternehmen und Behörden benötigen kein mit unzeitgemäßen Treuepflichten begründetes besonderes Schutzrecht. Die allgemeinen Gesetze schützen ausreichend gegen falsche Tatsachenbehauptungen oder unzutreffende Anschuldigungen, die den Whistleblower:innen häufig unterstellt werden. Das Gesetz sollte weiter festhalten, dass bei allen Äußerungen von Beschäftigten, die das öffentliche Interesse wesentlich berührende Fragen betreffen und die nicht leichtfertig und nicht wider besseres Wissen erfolgen, eine gesetzliche Vermutung für den Vorrang der Meinungsäußerungsfreiheit vor anderen rechtlich geschützten Interessen besteht.
  9. Ein Schutzgesetz für Whistleblower:innen sollte diesen die Orientierung erleichtern. Potentielle Hinweisgeber müssen anhand übersichtlicher und klarer Regelungen ohne komplizierte Weiterverweisungen auf andere Normen und schwammige Begriffe die Rechtmäßigkeit ihres geplanten Vorgehens sicher einschätzen können. Das Gesetz von 2022 ist insoweit völlig misslungen. Selbst Rechtsanwälte dürften Mühe haben, rasch den Anwendungsbereich des § 2 HinwGSchG auf einen konkreten Fall zuverlässig zu beurteilen. Whistleblower:innen wollen weiter verlässlich wissen, an welche Stellen sie sich wenden können und ob die Vertraulichkeit garantiert ist, so dass sie nicht mit sofortigen Gegenmaßnahmen oder gar Kündigungen rechnen müssen. Sie wollen die Risiken für sich und ihre Familie möglichst geringhalten (z.B. war Snwoden wochenlang damit befasst, eine abgesicherte digitale Kommunikation mit dem Journalisten Greenwald aufzubauen.). Nach dem Hinweisgeberschutzgesetz 2022 sind die betrieblichen und externen Meldestellen zwar zum Schutz der Vertraulichkeit hinsichtlich der Identität der Hinweisgeber verpflichtet. Das ist aber lückenhaft, denn der die Ermittlungen führenden Staatsanwaltschaft oder der Bußgeldbehörde müssen die Meldestellen auf Anforderung den Klarnamen des Hinweisgebers mitteilen (§ 9 Abs.2 Ziff 1 und 2 HinwGSchG). Deswegen werden vorsichtige potentielle Whistleblower:innen ihre Identität lieber durch eine anonyme Meldung sichern wollen. Da aber die internen Meldestellen gesetzlich jetzt nicht verpflichtet sind, einen anonymen Meldeweg zu eröffnen, bzw. anonyme Meldungen nicht bearbeiten müssen (§ 16 Abs.1 HinwGSchG), werden sich Whistleblower:innen anonym an die externen Meldestellen wenden. Bei denen gelten aber ähnliche Regeln (§ 27 Abs.1 HinwGSchG). Der anonyme Weg ist unerwünscht und Whistleblower:innen verschlossen. Nachdem einige Länderfinanzverwaltungen für Hinweise auf Steuersünder 2022 gut geschützte anonyme digitale Zugänge eingerichtet haben2, die sogar anonyme Kommunikation ermöglichen, ist überhaupt kein vernünftiger Grund erkennbar, einen so digital gesicherten anonymen Weg den Whistleblower:innen zu verweigern.
  10. Nach dem beabsichtigten Gesetz gibt es für Whistleblower:innen kaum Möglichkeiten, geschützt an die Öffentlichkeit zu gehen. Das soll nur in Extremfällen möglich sein. Die Veröffentlichung von Missständen im Büro oder Betrieb in Presse, Funk und Fernsehen ist die effektivste Möglichkeit der Bekämpfung dieser Missstände und Rechtsverstöße. Aber genau das hegt das Gesetz von 2022 stark ein. Die Weitergabe von Meldungen zu unternehmensinternen Rechtsverstößen an Journalisten und die Veröffentlichung in den Medien darf nicht regelmäßig nur unter Vorbehalten erlaubt sein. Medien sichern die Teilhabe und Kontrolle der Bürger:innen in demokratischen Gesellschaften. Bei der Enthüllung von Rechtsbrüchen und Missständen sind sie unbedingt notwendige Akteure.
  11. In der Regel werden Whistleblower:innen nach ihrer Meldung auf Grund der spezifischen und nur wenigen Personen bekannten weitergegebenen Informationen rasch identifiziert werden können. Sie haben unmittelbare Gegenmaßnahmen ihres Arbeitgebers zu befürchten bis hin zur fristlosen Kündigung und Freistellung. Dagegen nutzen ihnen einklagbare Schadensersatzansprüche zunächst nicht, wenn das Familieneinkommen fehlt. Das Schutz-Gesetz muss daher gegen alle Arten von Repressalien einen Anspruch auf sofortigen einstweiligen Rechtsschutz vorsehen. Dem Arbeitgeber sind alle Positionsveränderungen vorläufig zu verbieten, damit der Arbeitsplatz zu den bisherigen Bedingungen erhalten bleibt, und ein Weiterbeschäftigungsanspruch gesetzlich vorzusehen.
  12. Viele notwendige Verbesserungen lassen sich spiegelbildlich aus der Kritik am jetzigen Gesetz herleiten. Darauf wird hier nicht im Einzelnen eingegangen. Aber hinzuweisen ist auf zwei besonders drängende Bereiche: Das Whistleblowing im Sicherheitsbereich und im internationalen Zusammenhang. Dabei haben wir die Schicksale von fünf unserer Preisträger:innen vor Augen: Nikitin, Ellsberg, Manning, Snowden und Dündar. Bei Ellsberg kam es dank schwerer Verfahrensfehler zur Einstellung des Strafverfahrens, in dem ihm nach dem Espionage Act eine Freiheitsstrafe von 150 Jahren Strafe drohte; Snowden konnte sich vor der entsprechenden Verfolgung unter Verlust seiner Existenzgrundlagen und persönlichen Bindungen ins Exil nach Russland retten. Die anderen Whistleblower:innen haben durch Strafverfolgung und Haft schwer gelitten. Von ihnen wäre niemand durch das deutsche Hinweisgeberschutzgesetz geschützt gewesen. Denn dieses erlaubt Beschäftigten im Sicherheitsbereich nur die geschützte Meldung an das Parlamentarische Kontrollgremium nach § 8 PKGrG, das zwar in gewissem Umfang gemeldete Missstände durch Sachverständige untersuchen lassen kann. In der Regel dürfte dessen Bericht aber folgenlos bleiben. Denn dieses Gremium kann aus eigener Befugnis nichts ändern und Whistleblower:innen auch nicht wirklich schützen.
  13. Offenbart haben die fünf Whistleblower:innen Verstöße gegen elementare Prinzipien der UN-Charta und der US-Verfassung (Ellsberg), Verstöße gegen völkerrechtlich bindende Resolutionen des Sicherheitsrats (Dündar), Umweltverbrechen durch die atomare Verseuchung internationaler Meere (Nikitin), Kriegsverbrechen (Manning) und die rechtswidrige anlasslose Massenüberwachung sowie den Bruch elementarer Menschenrechte bei der Spionage (Snowden). In allen Fällen deckten die Whistleblower:innen dabei Staatsgeheimnisse auf, mit denen Regierungen ihre kriminellen oder völkerrechtswidrigen Akte vor Enthüllungen schützen wollten. Es ist jedoch ein anerkannter Rechtsgrundsatz, dass kriminelle Handlungen von Staatsorganen nicht zugleich schützenswerte Geheimnisse sein dürfen. Ausdruck findet das in eingeschränkter Form auch im deutschen Strafgesetzbuch, das mit § 93 Abs.2 StGB regelt:
  14. „Tatsachen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder unter Geheimhaltung gegenüber den Vertragspartnern der Bundesrepublik Deutschland gegen zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen verstoßen, sind keine Staatsgeheimnisse“.
  15. Überlegungen greifen zu kurz, durch die Schaffung eines „Bundestransparenzbeauftragten“ als externe Meldestelle3 oder eines Vorabprüfungsverfahren beim Bundesverfassungsgericht4 partiell den Geheimnisschutz aufzuheben. Denn die Geheimdienste werden auf diesem Schutz bestehen, auch wenn er rechtswidrige oder bedenkliche Praktiken verdeckt. Dies zeigen die weiterhin gesperrten Akten und die durch die US-Geheimdienste verweigerten Informationen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre. Auch bei Verschlusssachen ist nach den Grundsätzen des Europäischen Gerichtshofs die Einhaltung der Menschenrechte (EGMR) zu gewährleisten, dass Meldungen von Rechtsverstößen durch die Meinungsfreiheit geschützt sind, selbst wenn sie sich auf streng geheime Verschlusssachen beziehen5.
  16. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit Urteil vom 8.1.2013 (40238/02) entschieden, dass die gegen einen ehemaligen rumänischen Geheimdienstmitarbeiter wegen der Veröffentlichung von illegalen Überwachungsmaßnahmen verhängte Gefängnisstrafe diesen in seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt.
  17. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiterl war beim rumänischen Nachrichtendienst angestellt und u. a. für elektronische Abhöraktionen zuständig. Im Rahmen seiner Tätigkeit wurden ihm mehrere Unregelmäßigkeiten innerhalb der Behörde und, nach seiner Ansicht, Verletzungen der rumänischen Verfassung im Rahmen von angeordneten Überwachungen bekannt. Als er diese Vorfälle seinen Kollegen und direkten Vorgesetzten mitteilte, unternahmen diese nichts bzw. maßregelten ihn sogar für sein Verhalten. Danach wandte er sich an einen parlamentarischen Abgeordneten, der Mitglied in dem Kontrollgremium war, welches die Tätigkeit des Geheimdienstes überwachte. Dieser Abgeordnete riet dem Mitarbeiter direkt an die Öffentlichkeit zu gehen, da eine Untersuchung in dem Gremium wenig bringen würde, da dessen Vorsitzender und der Behördenleiter des Geheimdiensteszu enge und gute Kontakte pflegten. So hielt der Mitarbeiter im Mai 1996 in der Tat eine öffentliche Pressekonferenz ab, in der er die Medien über die von ihm aufgedeckten Gesetzesverletzungen informierte. Es wurde ein Strafverfahren wegen des Sammelns und des Bekanntmachens geheimer Informationen während des Dienstes gegen ihn eingeleitet, welches mit der Verhängung einer 2jährigen Haftstrafe endete, die jedoch zur Bewährung ausgesetzt wurde.
  18. Das Gericht hatte zunächst geprüft, ob der Mitarbeiter andere Möglichkeiten hatte, die Informationen zu veröffentlichen. Es entschied, dass der Weg über den Abgeordneten und dann direkt an die Presse erforderlich war, weil seine Vorgesetzten in die Rechtsverletzungen involviert waren. Nach dem Geschehen wurden in Rumänien spezielle Gesetze zum Schutz von Informanten im öffentlichen Dienst erlassen, die jedoch im vorliegenden Fall rückwirkend keine Anwendung finden konnten.
  19. Das Gericht ging sodann auf den Wert der offenbarten Informationen für die Öffentlichkeit ein. Die Überwachung von Telefonaten sei gerade in Staaten wie Rumänien, in dessen Vergangenheit solche Überwachungspraktiken üblich waren, besonders bedeutsam. Durch die aufgedeckten Tätigkeiten war die Gesellschaft direkt betroffen, da unter den dargelegten Umständen jeder Bürger überwacht werden könnte. Zudem bezog sich die Information auf missbräuchliche Handlungen von hochrangigen Staatsbediensteten und betraf damit die demokratischen Grundlagen des Staates. Für die öffentliche politische Debatte in einer demokratischen Gesellschaft waren derartig wichtige Themen von besonderem Interesse. Das Gericht prüfte auch die Richtigkeit der veröffentlichten Informationen und sah keine Hinweise dafür, dass die Überwachung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit angeordnet worden sei, die solche Tätigkeit hätte rechtfertigen können. Zudem sprach alles dafür, dass die Überwachungen ohne vorherige Autorisierung angeordnet wurden. Der EGMR stellte zu dem Motiv des ehemaligen Mitarbeiters fest, es spreche nichts dafür, dass der Informant aus anderen Gründen an die Öffentlichkeit ging, als diese über die Gesetzesverstöße und die Missachtung der Rechte aus der Verfassung aufzuklären. Dies zeige sich auch dadurch, dass er zunächst versuchte den direkten Dienstweg zu beschreiten6.
  20. Regierungen und Geheimdienste verbergen ihre Geheimnisse hinter dem alle Zugriffsversuche abwehrenden „Schutz der nationalen Sicherheit“. Wirksame Veränderungen können in diesen Bereichen nur durch eine von mutigen Whistleblower:innen gespeiste wachsame Presse als „Vierte Gewalt“, durch Transparenz und Öffentlichkeit erreicht werden. Das hat Edward Snowden sorgfältig geprüft, bei seinem Whistleblowing generalstabsmäßig geplant und mit Erfolg umgesetzt.
  21. Der Antagonismus der Meinungsfreiheit des Einzelnen gegen Beschränkungen durch den Arbeitgeber oder Dienstherrn kann nicht entscheidend sein, wo es um die Einhaltung von Völkerrecht und der elementaren Regeln der Menschenrechte geht. Die individuelle Motivation der Alarmschlagenden und ihre Nationalität sind dabei nicht ausschlaggebend. In der global vernetzten Welt ist nicht mehr der Nationalstaat mit seinen Printmedien, sondern die global vernetzte digitale neue Öffentlichkeit, über die Informationen schnell, effektiv und jenseits nationaler Jurisdiktionsräume verbreitet werden können, bei Meldungen von Fehlentwicklungen bedeutsam. Denn diese betreffen in der Regel grenzüberschreitend viele Länder. Das entspricht den Aktivitäten transnational vernetzter Sicherheitsorgane, vor allem der Geheimdienste, deren Überwachungsmethoden die nationalen rechtsstaatlichen Fesseln abgestreift und international demokratisch angelegte Kontrollstrukturen unterwandert haben.
  22. Der Schutz international auftretender Whistleblower:innen ist nicht mehr über national begrenzte Regeln und Normen zu beantworten7. Hier kollidieren beim Whistleblowing nicht subjektive Freiheitsrechte mit kollektiven Gegenrechten, sondern transnationale Autonomieräume. Es reicht nicht, die guten Absichten von Manning, Snowden u.a. zum Ausgangspunkt rechtspolitischer Erwägungen zu machen. Vielmehr braucht es „Rechtsregeln, die einerseits der Bedeutung des Whistleblowings als Transmissionsriemen gesellschaftlicher Werte und andererseits den Geheimhaltungsinteressen transnationaler Sphären der Diplomatie, des Militärs, der Wirtschaft etc. gerecht werden8“. Die Aufdeckung von Staatsverbrechen und Verstößen gegen grundlegende Menschenrechte und international verpflichtende Verträge dürfen nicht in Frage gestellt werden. Denn der Schutz des militärisch-ordnungsrechtlchen Komplexes vor dem Licht der Öffentlichkeit kann grundsätzlich nur soweit reichen, als es um Geheimnisse geht, deren Wahrung rechtmäßig und objektiv geboten ist. Das darf nicht von einer formalen Klassifizierung als „geheim“ abhängen.
  23. Die Enthüllungen von Geheimdienstmissständen durch Snowden zeigten die aktuelle Herausforderung, es „zu ermöglichen, dass die transnationalen Sicherheitsorgane wieder den Imperativen demokratisch organisierter gesellschaftlicher Kräfte gehorchen und nicht umgekehrt9.
  24. Wie können Whistleblower:innen in solchen transnationalen Zusammenhängen vor Sanktionen geschützt werden? Dazu gibt es einige Hinweise, aber bisher keine wirksamen Lösungen. Snowden hat als eine durch die US-Regierung unter der Androhung bis zur Todesstrafe gesuchte Person in aller Welt Staaten gesucht, die bereit wären, ihn aufzunehmen und nicht an die USA auszuliefern. Tatsächlich ist die US-Regierung bei der Fahndung nach Snowden nicht davor zurückgeschreckt, internationales Recht zu brechen und dazu auch andere Staaten anzustiften. Sie hat das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Morales in Wien zur Landung gezwungen, um Snowdens habhaft zu werden. Auch die deutsche Regierung wagte es nicht, Snowden Aufenthalt zu geben, so dass dieser wider Willen 2013 in Moskau gestrandet ist und mangels Alternative weiterhin dort bleiben muss. Eine Warnung für Whistleblower:innen ist auch das Beispiel Assange. Er wurde schutzlos, als die Regierung, die ihm zunächst Schutz und Staatsangehörigkeit gewährt hatte, abgewählt wurde. Es kann nicht die Lösung sein, Schutz nur noch bei den jeweils schlimmsten Feinden der entlarvten Staaten zu finden.
  25. Im Zusammenhang mit der atomaren Abrüstung wurden bereits in den 90erJahren des letzten Jahrhunderts Überlegungen zur „societal verification“ veröffentlicht, übersetzt etwa mit „kritisches Überwachen durch die Zivilgesellschaft“. Dabei sollten Zivilgesellschaften daran beteiligt werden, die Einhaltung und Befolgung internationaler Verträge und Vereinbarungen zu kontrollieren und kritisch zu überwachen, vor allem bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung, aber auch im Umweltschutz und bei Menschenrechten10. Im Gegenzug sollte in völkerrechtlichen Verträgen eine Klausel aufgenommen werden, wonach die Vertragsstaaten verpflichtet werden, innerstaatlich allen Personen, die Verstöße melden, in ihrem Staatsgebiet Schutz vor jeder Form der Diskriminierung zu garantieren und den Betroffenen einklagbare Rechte zu gewähren11. Als Beispiel kann der von IALANA, IPPNW u.a. 1996 entwickelte Entwurf einer Atomwaffenkonvention gelten, der seit 1997 offizielles UN-Dokument ist12 und eine solche Klausel enthält. Dieser Ansatz ist aber soweit ersichtlich in abgeschlossenen Verträgen bisher nicht weiterverfolgt worden.
  26. Alle, die sich weiterhin verpflichtet fühlen, den Schutz von Whistleblower:innen zu verbessern, sind aufgerufen an der gesetzlichen Weiterentwicklung mitzuarbeiten.

1 allein aus dem CumEx-Skandal resultierten für Deutschland 418 Fallkomplexe im Volumen von 5,7, Mrd. Euro – vgl. https://www.zeit.de/news/2018medien-schaden-durch-cum-ex-bei-55-milliarden-euro-181018-99-422197

2vgl. z.B. Finanzminsterium Baden-Württemberg PM v. 30.8.22:

„Durch das neue webbasierte Hinweisgebersystem können Bürgerinnen und Bürger künftig auch digital, sicher und trotzdem anonym und diskret mit der Steuerverwaltung kommunizieren. Der Zugriff auf personenbezogene Daten der Hinweisgeberin oder des Hinweisgebers ist ausgeschlossen. Dies schafft zusätzliches Vertrauen. Über einen digitalen Postkasten besteht zudem die Möglichkeit eines anonymen Dialogs für Rück- und Nachfragen“-https://fm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilung/pid/anonymes-hinweisgeberportal-freigeschaltet/

.

3vgl. Robert Brockhaus u.a., Zum aktuellen Regierungsentwurf für ein Whistleelblower-Schutzgesetz, verfassungsblog vom 8.8.2022

4Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion vom 15.12.2020 „Whistleblower besser schützen“, S.3

5so der EGMR in Sachen Bucur und Toma vs. Rumänien – EGMR, 08.01.2013 – 40238/02  „Ex-Geheimdienstmitarbeiter darf öffentlich über illegale Überwachung informieren“

6vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Ex-Geheimdienstmitarbeiter darf öffentlich über illegale Überwachung informieren von Carlo Piltz in de lege lata –

7vgl. hierzu und zum Folgenden Andreas Fischer-Lescano, Mäßigung der Verhältnismäßigkeit. Whistleblowing im transnationalen Recht, 2016

8aaO., S.3

9aaO., S. 12

10https://www.ialana.de/arbeitsfelder/whistleblowing/societal-verification/26-societal-verification

11D.Dieseroth, Berufsethische Verantwortung in der Forschung, 1997, S. 413 ff. (415)

12UN Doc.A/C1/52/7

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