Ein Konferenzbericht zur Stettiner Tagung am 23/24.09.2011 von Dr. Peter Becker


Polen hat am 13. Mai und am 29. Juni 2011 ein „nuclear package“ verabschiedet: Ein Gesetz zur Ergänzung des Atomgesetzes und ein Gesetz zur Vorbereitung und Begleitung von Investitionen in Atomkraftwerke – wenige Wochen nach Fukushima; Anlass genug für eine Konferenz, die die Möglichkeiten einer Energiewende nach deutschem Vorbild untersuchen sollte. Diese Konferenz fand am 23./24. September in der Juristischen Fakultät der Universität von Stettin statt.

Ausrichter waren Prof. Pasquale Policastro, ein von Haus aus italienischer Wissenschaftler, der seit vielen Jahren in Stettin lebt und lehrt. Mit von der Partie waren das Institut für Klimawandel, Energie und Mobilität (IKEM) mit seinem rührigen Chef Prof. Michael Rodi, die deutsche Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und die Anwaltskanzlei Becker Büttner Held, BBH.
Da sich die Konferenz die Aufgabe stellte, einerseits die Stationen der Energiewende in Deutschland bis hin zum großen Gesetzespaket vom 30. Juni 2011 und andererseits die Auslegung der polnischen Energieversorgung und die Bedingungen für die Neueinführung (!) der Atomverstromung und die Aussichten Erneuerbarer Energien abzuschätzen, übernahmen Experten aus beiden Staaten die Darstellung der unterschiedlichen Bedingungen.

Reiner Braun, langjähriger Geschäftsführer der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), derzeitiger Geschäftsführer der deutschen und der internationalen IALANA sowie seit langen Jahren Peace-Aktivist, stellte sehr illustrativ die Entwicklung der deutschen Protestbewegung anhand ihrer Stationen (Entstehen der Anti-AKW-Bewegung, Gründung der Grünen Partei 1980, Gorleben, Brokdorf u.a.) dar.

Der Konferenzberichterstatter erläuterte die Entwicklung der Atomverstromung in den USA nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, Eisenhowers legendäre Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1953 mit der programmatischen Ansage „atoms for peace“ und die Erzwingung der Nuklearverstromung durch die amerikanische Regierung bis hin zur Drohung, den Energiekonzernen die Zuverlässigkeit abzusprechen, wenn sie sich gegen die Atomverstromung sperrten. Das war auch nötig, weil Abschätzungen ergeben hatten, dass Atomkraftwerke deutlich teurer waren als die fossile Konkurrenz. In Deutschland war die Situation ähnlich. Der RWE-Konzern hatte die Kosten der Nuklearverstromung durchrechnen lassen und kam zu einem verheerenden Ergebnis: Die Bundesregierung musste ein Subventionsprogramm auflegen, das insbesondere die nukleare Forschung zur Staatsaufgabe machte und die Risiken schwerer Unfälle und das ungelöste Endlagerproblem dem Staat zuwies. Optimistische Abschätzungen aus den USA (Rasmussen-Report), die eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 1 : 1.000.000 für ein Bersten des Reaktordruckbehälters ergaben, erleichterten die Durchsetzung des Baus von Kernkraftwerken, weil schwere Unfälle allenfalls als „Restrisiko“ erschienen. Dabei hatte es in der Vergangenheit bereits mehrere schwere Unfälle mit Kernschmelze gegeben, die aber überwiegend vertuscht wurden.

Es war dem Aufstieg der Grünen Partei und der Übernahme der Atomaufsicht zunächst in Hessen und dann im Bund zu verdanken, dass atomkritische Positionen die Aufsichtstätigkeit beherrschten – bis hin zum „ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug“ (Sendler) durch sicherheitsorientierte Auflagen. Dieser motivierte die Konzerne, ein Arrangement mit dem Staat zu suchen. Die Gegenleistung, die Staatssekretär Rainer Baake als staatlicher Verhandler verlangte, war der Atomausstieg. So kam es zunächst zum Atomkonsens 2000 und dann zum Ausstiegsgesetz 2002. Der Rest ist bekannt: die Laufzeitverlängerung Herbst 2010 und der nur wenige Wochen erfordernde Ausstieg nach dem Fukushima-Desaster.

BBH-Anwalt Roman Ringwald, der zugleich die Interessen von Bundesländern vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt, die gegen die Laufzeitverlängerung waren, stellte in einem stark beklatschten Beitrag nüchtern „Fragen nach Fukushima“: Wie war es möglich, dass ein demokratischer Staat mit einer hochentwickelten Technologie einen derartigen Unfall erdulden musste? Das führte zur Frage, wer die Risiken solcher Unfälle trage, da es ja keine private Versicherung gibt, die die möglichen Schäden abdeckt. Dazu Nobelpreisträger Josef Stiglitz: „Wenn andere die Kosten von Fehlern tragen, führt das zur Selbstbedienung. Ein System, das Verluste sozialisiert und Gewinne privatisiert, führt zwangsläufig zum Missmanagement von Risiken.“ Die Reaktionen fallen bekanntlich unterschiedlich aus: Deutschland und die Schweiz steigen aus, Österreich und Italien haben von vornherein keine Atomkraftwerke zugelassen. Frankreich hingegen beschloss kürzlich eine Laufzeitverlängerung, England diskutiert über Einspeisevergütungen und Polen beschließt, die zivile Nutzung neu einzuführen…

Wie soll die Gesellschaft mit dem Risiko der Atomverstromung umgehen? Man kann sich dem Thema unter kategorialen Aspekten nähern, aber auch gradualistisch argumentieren. Das Problem jeglicher Annäherung ist aber, dass nur große, marktbeherrschende Unternehmen das Betreiben von Atomkraftwerken auf sich nehmen können. Die Folge der Einführung war immer die Schwächung des Wettbewerbs. Kein Atomkraftwerk kam ohne Subventionen aus. Und jetzt kämpfen Atomstrom und der aus Erneuerbaren gegeneinander.

Eine nuklearfreie Welt stellt allerdings Herausforderungen. Denn man muss zur gleichen Zeit den Klimawandel verhindern und die Umwelt schützen. Die Versorgungssicherheit muss gewährleistet bleiben. Wettbewerb und ökonomische Effizienz sind unerlässlich. Und der soziale Aspekt des Unterfangens: Wer bezahlt die Rechnung? Nach dem Aufzeigen der Ansätze dafür reflektierte Ringwald nochmals den durch Fukushima eingetretenen Wandel. Eine nuklearfreie Welt sei möglich. Zur Energiepolitik gehöre aber das Marktdesign. Wer sich ihm stelle, habe eine riesige Chance.

Der Rostocker Professor Felix Ekardt, der zugleich in Leipzig eine Forschungsgruppe für Nachhaltigkeit und Klimapolitik leitet, stellte sich dem Thema, wie man gesellschaftliches Bewusstsein für die Energiewende schaffe, mit kritischen Fragen: Für die Klimadebatte sei die Nuklearfrage im Grunde zweitrangig. Der Verbrauch von Strom stelle weltweit nur 17 Prozent vom gesamten Energiekonsum dar. Davon betrage der Anteil nuklear erzeugten Stroms nur drei Prozent. Wolle man wirklich eine Veränderung erreichen, sei das keineswegs allein eine technische Frage. Ausschlaggebend sei hier die Veränderung des Lebensstils. Das gelte auch für Deutschland, das keineswegs die gewaltigen Erfolge aufweise, wie häufig dargestellt. Während das internationale Weltklimapanel im Vergleich zu 1990 eine Verminderung der Treibhausgasemissionen von achtzig Prozent verlangt hatte, seien die Emissionen um vierzig Prozent gestiegen. Deutschland habe nur eine Minderung von 25 Prozent erreicht. Für die angestrebten hohen Minderungen sei vor allem eine Minderung des Energieverbrauchs nötig.

Was bedeutet gesellschaftliches Bewusstsein? Wir alle steckten in Teufelskreisen fest, die durch Konformität, Emotionen, Egoismus, traditionelle Werte wie Steigerung des Bruttosozialprodukts, technisch/ökonomische Pfadabhängigkeiten und das Problem kollektiver Güter gekennzeichnet seien. Und – das zeige die Geschichte des Kommunismus – man kann den Menschen nicht vollständig ändern. Das bedeute, dass man ein Ineinandergreifen besserer politischer und sozialer Standards brauche. Nötig sei ein Schritt-für-Schritt-Vorgehen, um den Teufelskreisen zu entrinnen. Es komme also nicht nur auf politische Forderungen an, vielmehr seien politische Entscheidungen nötig. Dafür werde eine weltweite Wertdiskussion gebraucht. Die üblichen „Umweltmanager“ in der Politik, in Unternehmen und der Wissenschaft seien erste Schritte. Maßgeblich seien vielmehr verlässliche Rollenmodelle.

Martin Altrock, erfahrener EEG-Kommentator, zeigte anhand der Entwicklung der Gesetzgebung zu Erneuerbaren Energien die Schritte vom Stromeinspeisungsgesetz über das EEG 2000, die Novelle 2004 und schließlich das EEG 2012 auf, wie der Gesetzgeber Entwicklungsschübe verordnete. Eine wichtige Station war der Schritt zu kostendeckenden Einspeisevergütungen. Ein weiterer Schritt war die Biomasseverordnung 2001, die dazu führte, dass zum heutigen zwanzigprozentigen Anteil an der Stromerzeugung Wind und Biomasse etwa gleich beisteuern. Mit dem EEG 2009 kam eine starke Zunahme der Biomasse. Das EEG 2012 habe sich die Herbeiführung der Marktreife Erneuerbarer Energien zum Ziel gesetzt; mit freilich hochkomplexen Regelungen. Polen weise demgegenüber eine ganz unterschiedliche Förderung auf. Statt fixer Einspeisevergütungen gebe es ein Zertifikatsystem: Nur kapitalstarke Anbieter kämen zum Zuge. Aussichtsreich könnten praktisch nur die beiden großen Nord- und Süd-Energiekonzerne anbieten – die daran aber kein Interesse hätten.

Altrocks Hinweise provozierten eine Diskussion über die Bedingungen zum Klimawandel. Prof. Rodi machte darauf aufmerksam, dass gesellschaftliche Bewegungen keinesfalls ausreichten. Gerade bei der Einführung der Erneuerbaren Energien seien vielmehr gesetzliche Maßnahmen unerlässlich. Diese müssten zielorientiert und effektiv sein und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beachten. Insofern sei die Situation in Polen mit einer an der Energiewende nicht sehr interessierten Gesetzgebung ausgesprochen schwierig.

Das war das Stichwort für Pasquale Policastro, der die auf den ersten Blick deprimierende Energieversorgungssituation in Polen darstellte: In der Zeit des Sozialismus sei die Vielfalt der Energieversorger weitgehend verschwunden. Es gebe vor allem einen großen Nord- und einen großen Süd-Energieversorger, die für die Erzeugung von elektrischer Energie und Wärme zuständig seien; immerhin in Kraft-Wärme-Kopplung. Polen habe nationale Energieautarkie verfochten und setze deshalb stark auf Stein- und Braunkohle. Auf keinen Fall wolle Polen von russischem Erdgas abhängig sein; deswegen wurde die „Northstream-Pipeline“ bekämpft. Das „nuclear package“ sei als Versuch zu sehen, die nationale Autarkie weiter zu wahren.

Rechtsanwalt Maciej Szambelanczyk von der Kanzlei Wiercinski Kwiecinski Baehr, Warschau und Posen, polnischer Partner der Associated European Energy Consultants (AEEC), stellte das soeben beschlossene „nuclear package“ vor. Für die Elektrizitätserzeugung seien Braunkohle (35,6 %) und Steinkohle (55,6 %) ausschlaggebend wichtig. Die industrielle Eigenerzeugung mache 5,2 % aus. Der Anteil von Gas belaufe sich auf nur 2,6 % und der der Erneuerbaren auf nur 2 %.
Diese Situation solle grundlegend verändert werden. Ein starker Treiber sei der Bedarf an elektrischer Energie, der von 141 TWh in 2010 auf 217,4 TWh in 2030 und die elektrische Leistung von 35 MW in 2008 auf 52 MW steigen solle. Angestrebt würde bis zu diesem Zeitpunkt eine Reduzierung des Kohleanteils auf 57 %. Der Anteil des Gases, darunter heimisches Shelf-Gas, solle 18,8 % betragen, der Anteil der Kernenergie 15,7 % und der Anteil der Erneuerbaren 8,6 %.

Das „nuclear package“ wurde mit einer Resolution der Regierung Anfang 2009 beschlossen. Es sollten mindestes zwei Atomkraftwerke gebaut werden, von denen eines bis 2020 ans Netz gehen solle. Dafür wurde ein Stufenplan aufgestellt. 28 potentielle Standorte würden untersucht, aufs ganze Land verteilt. Am 13. Mai und am 29. Juni 2011 wurden die wesentlichen gesetzlichen Entscheidungen getroffen. Dabei habe sich die Regierung nicht auf bestimmte Investoren und Hersteller festgelegt. In die Entscheidung solle die Willensbildung vor Ort eingebunden werden. Diese Voivoden legten die technischen Anforderungen für das Investment fest. Daraufhin folge eine Ausschreibung. Nach dem Zuschlag müssten Errichtungsgenehmigungen ergehen, die die nukleare Sicherheit, den Strahlenschutz, den Schutz des Objekts und die Vorkehrungen für die Stilllegung umfassten.

Diese Entscheidung könne innerhalb von dreißig Tagen angefochten werden. Eine Volksabstimmung über die Zulassung eines Atomkraftwerks vor Ort auf nationaler oder lokaler Grundlage sei allerdings unzulässig. Immerhin müssten sich die Bürger vor Ort unterrichten können. Auch würden die Kommunen am Gewinn beteiligt. Von diesem Gewinn gehe allerdings vorab eine Rückstellung für die Stilllegungskosten ab.

In der Diskussion stellte sich heraus, dass es bisher keine Festlegungen für den Reaktortyp, den Investor, den Konstrukteur und Betreiber gebe. Die Zuständigkeit für den nuklearen Abfall liege beim Staat. Nachbarklagen seien zulässig. Für die Haftung und ihre Begrenzung orientiere man sich an europäischen Standards. Offen sei die Frage, ob der Rechtsschutz bis zum Verfassungsgericht reiche.

Die Abgeordnete der Grünen im Regionalparlament Ewa Kós, früher Elektroingenieurin, dann Lehrbeauftragte in der Technischen Hochschule und daher durchaus vom Fach, beklagten „viele Lügen“ in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und eine Menge Probleme im Gesetzgebungssektor. Zwar habe Wind gerade in der Küstenregion von Stettin eine hohe Bedeutung; der Anteil an der Gesamterzeugung betrage bereits zehn Prozent. Woanders sei die Situation aber keineswegs so positiv: Das große Problem seien die Monopole in der Produktion, im Transport und im Handelssektor; ferner gebe es legale, finanzielle und organisatorische Probleme. Die großen Unternehmen würden bevorzugt. Es gebe im Grunde nur zwei gesellschaftliche Bewegungen zugunsten der Erneuerbaren: Das seien zum einen die Grünen und zum anderen die Verbände der Erneuerbaren Energien. Die Grünen hätten es ausgesprochen schwer: Sie seien eine junge politische Bewegung. Eine Vertretung im nationalen Sejm gebe es noch nicht. Die finanzielle Ausstattung der Parteiaktivisten sei jämmerlich; sie seien fast ausschließlich auf private Finanzierung angewiesen. Wenn man etwas erreichen wolle, seien Aktivitäten auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen nötig, die einerseits gegen die Atomverstromung und andererseits für Erneuerbare Energien kämpfen müssten. Allerdings sei das Interesse der Presse am Thema sehr groß. Das kann der Verfasser dieses Berichts bestätigen: Er konnte während der Konferenz ein Rundfunkinterview geben (in englischer Sprache). Die Diskussion war aufschlussreich: Die passiven Konferenzteilnehmer akzentuierten übereinstimmend, von den in der Konferenz besprochenen Themen noch nie etwas gehört zu haben. Es sei für sie alles neu – und interessant. Ergebnis: Das Thema muss ganz anders propagiert werden. Der wesentliche Effekt der Konferenz lag ferner, daran waren sich alle Referenten einig, im Austausch zwischen den polnischen und deutschen Erfahrungen. Die Organisatoren beschlossen: Es muss in Polen eine Folgekonferenz geben, in die vor allem die – wenigen – Stadtwerke einbezogen werden müssten. Außerdem wird an der Ausrichtung einer Folgekonferenz in Moskau gearbeitet, die von Prof. Mark Entin im Moskauer Staatsinstitut für Europäische Studien ausgerichtet werden soll.