Begründung der Gemeinsamen Jury von IALANA und VDW

für die Verleihung des Whistleblower-Preises 2017 an Dr. Can Dündar

 

A. Zur Person von Dr. Can Dündar

Can Dündar wurde am 16.6.1961 in Ankara geboren. Die Eltern waren republikanisch orientiert. Der Vater arbeitete zeitweise für den türkischen Geheimdienst MIT. D. interessierte sich schon als Jugendlicher für Politik. Er studierte Journalismus an der Fakultät für Politikwissenschaften in Ankara. Nach Abschluss des Studiums im Jahr 1982 machte er 1988 seinen Master an der London School of Journalism. 1996 wurde er an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara promoviert mit einer Arbeit über verschiedene Geheimdienste, die illegal handelten, aber durch Erklärung ihrer Aktivitäten zumStaatsgeheimniszu Unrecht Schutz erhielten (u.a. im Watergate-Skandal in den USA). Danach arbeitete er als Redakteur bzw. Kolumnist für verschiedene Zeitungen, moderierte im Fernsehen und produzierte Dokumentarfilme über prägende politische Ereignisse in der Türkei. Außerdem schrieb er über Personen der Zeitgeschichte wie Nazim Hikmet und verfasste ein kritisches Porträt zu Atatürk.

Nachdem schon vorher in der Türkei große Konzerne Medien aufgekauft hatten, um sich durch gefällige Berichterstattung lukrative Regierungsaufträge zu sichern, verstärkte sich diese Entwicklung nach dem Regierungsantritt der AKP.

Es entstanden Redaktionen, die (nunmehr) völlig auf der Linie Erdogans berichten. Von der kritischen Öffentlichkeit werden sie derPoolgenannt. Nicht gefügige Journalisten wurdenauch schon vor dem gescheiterten Staatsstreich vom 15./16. Juli 2016 - entlassen, so u.a. auch Can Dündar beiMilliyetim Jahr 2013 wegen der Berichterstattung über die Gezi-Proteste. Danach fand er eine Anstellung beiCumhuriyet, der ältesten Zeitung der Türkei (erscheint seit 1924). Die Zeitung gehört einer privaten Stiftung und positionierte sich sowohl gegen die Gülen-Bewegung als auch gegen Erdogans AKP. Im März 2015 wurde Can Dündar ihr Chefredakteur.

D. ist mit Dilek Dündar verheiratet und hat einen in London lebenden Sohn, der dort Politikwissenschaften studiert.


 

B. Can Dündar erfüllt die für den Whistleblowerpreis festgelegten Kriterien

(1)Aufdeckung eines Missstandes(revealing wrongdoing)

Nach Zugang eines IT-Sticks recherchierte Can Dündar über ein gravierendes Fehlverhalten dertürkischen Regierung unter Erdogan. Unter Bruch der UN-Chartaund am türkischen Parlament vorbei unterstützte diese im Geheimen islamistische Rebellen inSyrien mit Waffen im Kampf gegen die syrische Regierung. Von türkischer Regierungsseite wurden diese Vorgänge geleugnet. Im Zuge der Recherchen ergab sich jedoch folgendes:

 

Am 19. Januar 2014 wurde aufgrund eines Telefonanrufes eines türkischen Polizeibeamten (mutmaßlich aus Ankara) in der Nähe der türkischen Stadt Adana ein in Richtung syrischer Grenze fahrender LKW-Konvoi auf der Autobahn von der Gendarmerie unter Leitung des Staatsanwalts Aziz Takci angehalten und durchsucht. Der Transport wurde vom türkischen Geheimdienst MIT durchgeführt. Nachdem sich höchste Stellen eingeschaltet hatten, durfte der Konvoi passieren. Die Regierung verhängte sofort eine Nachrichtensperre.

Als gemunkelt wurde, die türkische Regierung unterstütze Al-Kaida oder andere terroristische Gruppen in Syrien und lasse durch den Transport u.a. den IS-Kämpfern Kriegswaffen und Munition zukommen, wurde von Regierungsseite zunächst behauptet, es habe sich um humanitäre Hilfslieferungen gehandelt. Als dann Fotos von der Ladung der LKWs auftauchten, hieß es, eventuell hätten auch Waffen an die Turkmenen in der Türkei geliefert werden sollen. Das wiederum dementierten Vertreter der Turkmenen. Erdogan selbst hielt dennoch öffentlich daran fest, die LKWs hätten keine Waffen transportiert.

Im Januar 2015 war auf einem Blog einer Hackergruppe namens@LazipeMim Internet für wenige Stunden eine Kopie eines handschriftlichen angeblichen Protokolls der Gendarmerie mit VermerkGizli(i.e. Geheim) eingestellt, in dem von Waffen und Munition für den IS die Rede war. Der Blog wurde durch die Behörden sofort unterdrückt, ebenso dahingehende Hinweise in den sozialen Medien.

Die Zeitung Cumhuriyet hatte die Vorgänge um dieLKWs des Geheimdienstesschon von Anfang an begleitet und dazu auch Artikel veröffentlicht, zuletzt im März 2015, als ihr investigativ tätiger Journalist Ahmet Sik ein Interview mit dem damals bereits wegen der Aktion suspendierten Staatsanwalt Taksi führte. Aber bis Ende Mai 2015 fehlte der schlüssige Beweis, dass Erdogan wahrheitswidrig den Transport von Waffen an Al-Kaida im Januar 2014 geleugnet hatte.

Am 27. Mai 2015 wurde Can Dündar ein PC-Stick mit einem Video durch einen bisher unbekannt gebliebenen Whistleblower zugespielt, das nach den verfügbaren Informationen auf der Autobahn bei Adana am 19.01.2014 von den durchsuchenden Gendarmen angefertigt worden war und den gesamten Vorgang vom Anhalten der 3 LKWs sowie der Öffnung der transportierten Kisten mit Waffen festhielt. Es handelte sich nach dem Polizeiprotokoll um ca. 1.000 Raketen, 1.000 Panzerraketen, 50.000 Schuss Gewehrmunition und 30.000 Schusspatronen fürMaschinengewehre. Den Umständen nach sollten die Waffen offenbar unter Verstoß gegen UN-Resolutionen und das Völkerrecht an radikal-islamistische Kämpfer in Syrien geliefert werden.

Can Dündar war nach Prüfung der Echtheit des Videos sofort klar, dass er damit den sicheren Beweis in den Händen hielt, dass die Erdogan-Regierung und der türkische Geheimdienst im Januar 2014 unter Bruch des Völkerrechts und offenbar am Parlament vorbei heimlich den IS und andere Dschihadisten im Kampf gegen die syrische Regierung mit Waffen unterstützen wollte. Durch eine Nachrichtensperre und die Erklärung zum Staatsgeheimnis sollte der Vorgang geheim gehalten werden.

Der Bürgerkrieg in Syrien hatte sich spätestens ab dem Jahr 2013 zu einer Art Stellvertreterkrieg entwickelt, in dem unter anderem Nachbarstaaten und der Westen durch heimliche Unterstützung von kämpfenden Rebellengruppen das Ziel verfolgten, das Assad-Regime zu stürzen, das seinerseits vom Iran und Russland unterstützt wurde. Allerdings hatten sich alle beteiligten Staaten der UNO gegenüber verpflichtet, Al-Kaida und seine terroristischen Ableger gemeinsam zu bekämpfen. Der UN-Sicherheitsrat hatte dazu eine nach Art. 25 UN-Charta bindende Resolution verabschiedet (vgl. dazu: UN-SR Res. 1989 (2011) vom 17.6.2011 - https://www.un.org/sc/suborg/en/s/res/1989-%282011%29 - unter Maßnahmen Ziff. 1 c).

Generell gilt nach dem geltenden Völkerrecht: Alle UN-Mitgliedsstaaten haben nach Art. 2 UN-Charta diesouveräne Gleichheitaller UN-Staaten zu achten (Nr. 1) sowie in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von militärischer Gewalt zu unterlassen (Nr. 4). Waffenlieferungen eines Staates an aufständische Rebellen eines anderen souveränenStaates verstoßen gegen Art. 2 Nr. 4 UN-Charta und sind zudem als Verletzung des völkergewohnheitsrechtlichen Interventionsverbots in den internationalen Beziehungen zu qualifizieren. Das hat der Internationale Gerichtshof in seinem Urteil Nicaragua vs. USA vom 27.06.1986 eindeutig bestätigt (vgl. dazu http://www.ialana.de/arbeitsfelder/frieden-durch-recht/intern-gerichtshof-ijc/wichtige-entscheidungen-und-gutachten-des-icj/191-nicaragua-urteil-des-igh; vgl. dazu auch die Resolution der UN-Generalversammlung vom 25.10.1988A/Res/43/1136th plenary meeting).

(2) Kriterium desAlarmschlagens(going outside)

Can Dündar war bewusst, dass die Veröffentlichung des Materials auf dem ihm (von einem bisher öffentlich namentlich nicht bekannten Informanten) zugespielten Video Repressionsmaßnahmen des Erdogan-Regimes gegen die Zeitung, zur Verhaftung seiner Person und zu einem nachfolgendem Strafprozess mit ungewissem Ausgang zur Folge haben könnte. Zugezogene Rechtsanwälte und einige Kollegen in der Redaktion schätzten das Risiko so hoch ein, dass sie ihm als Chefredakteur dringend von der Veröffentlichung abrieten.

Can Dündar beschreibt die Situation in seinem 2016 publizierten autobiographischen BuchLebenslang für die WahrheitAufzeichnungen aus dem Gefängnisselbst wie folgt:Es gab ein öffentliches Interesse an diesen Informationen. Dafür traten wir ein. Was kann schlimmstenfalls passieren? fragte ich. Sie führen nachts eine Razzia in der Druckerei durch, beschlagnahmen die Zeitung, nehmen dich fest und erlassen einen Haftbefehl, sagten die Anwälte.Gut, dann drucken wir, sagte ich. (vgl. dort S. 25).

Die ZeitungCumhuriyeterschien daraufhin am 29.05.2015 mit einem großen Artikel auf der Titelseite unter der ÜberschriftHier sind die Waffen, die Erdogan leugnet. In diesen waren 5 Fotos eingearbeitet. Auch hatte Dündar dazu den LeitartikelWarum bringen wir das?verfasst.

Der Artikel fand einen ungeheuren Widerhall in der Türkei und weltweit. Die türkische Staatsanwaltschaft reagierte auf die Veröffentlichung inCumhuriyetvom 29.5.2015 entgegen allen Usancen sofort mit einer Presseerklärung: Dündar werde der Spionage angeklagt, weil er geheime Informationen veröffentlicht habe. Erdogan persönlich stellte Strafantrag und äußerte im Fernsehen:Die Person, die das als Aufmacher brachte, wird teuer dafür bezahlen. Der kommt mir so nicht davon.

Can Dündar hat mit der von ihm veranlassten und bewirkten Veröffentlichung nicht lediglich seine beruflichen Aufgaben und Pflichten als Journalist und Chefredakteur wahrgenommen und erfüllt. Vielmehr ist sein Handeln darüber hinausgehend als Whistleblowing zu qualifizieren.

Nach Auffassung der Jury können auch Journalisten Whistleblower sein. Whistleblower sind Insider, die im "eigenen Wirkungskreis" oder "eigenen Arbeitsumfeld" handeln und "Alarm schlagen", wo es nötig ist. Sie nehmen illegales Handeln, gravierende Missstände oder erhebliche Gefahren für Mensch und Umwelt, Demokratie, Frieden oder andere wichtige Gemeingüter nicht länger schweigend hin, sondern decken diese auf. Sie tragen dazu Daten und Fakten zusammen, analysieren diese kritisch, wägen Gegenargumente ab, suchen nach Abhilfe und weigern sich, an diesen Missständen und Fehlentwicklungen selbst weiterhin mitzuwirken, diese zu bagatellisieren und gegen Kritik abzuschirmen oder sich gar selbst zum Komplizen machen zu lassen. Sie leisten damit einen Beitrag zum offenen kritischen Diskurs. Sie handeln dabei im Interesse des Gemeinwohls. Sie folgen ihrem Gewissenauch dann, wenn es unbequem für sie selbst werden kann. So gehen sie häufig ein hohes Risiko ein und setzen ihren Ruf oder gar ihre Existenz aufs Spiel. Oft werden sie von jenen unter Druck gesetzt, die unbequeme Wahrheiten vertuschen wollen.

Nicht unter den Begriff des Whistleblowers fallen dagegen in aller Regel Personen, die ausschließlich eine berufliche Aufgabe erfüllen, wie z.B. Staatsanwälte, Kriminalbeamte oder Steuerfahnder durch Aufklärung von Straftaten, Wissenschaftler, die in ihrem jeweiligen Forschungsgebiet Entdeckungen machen, ihre Forschungsergebnisse publizieren und diese verteidigen, oder Journalisten, die recherchieren und die Ergebnisse ihrer Recherchen publizieren. Bei einem/einer Journalisten/in kann jedoch aus einer Recherche und einer Publikation dann ein Whistleblowing werden, wenn er/sie unter extremen Repressionsbedingungen agieren muss und er/sie sich dennoch für ein solches Verhalten aus wichtigen Gründen des Gemeinwohls entscheidet.

Nach Maßgabe dieser Kriterien hat sich Can Dündarsoweit es um die Veröffentlichung vom 29. Mai 2015 inCumhuriyetund seine darauf bezogenen nachfolgenden öffentlichen ergänzenden und erläuternden Stellungnahmen gehtnicht nur als verantwortungsbewusster kritischer Journalist und Chefredakteur, sondern auch als Whistleblower erwiesen. Er diente nicht nur alsMediumfür seinen Informanten. Vielmehr war sein couragiertes und unerschrockenes Vorgehen unter den extremen Repressionsbedingungen des Erdogan-Regimes schlechthin konstitutiv für das Bekanntmachen und Verbreiten der auf dem ihm zugespielten Video-Stick enthaltenen Informationen. Im Rahmen dieses äußerst diffizilen Whistleblowing, an dem auch andere Personen beteiligt waren, war er (neben seinem namentlich bisher öffentlich nicht bekannten Informanten) der zentrale Akteur und Protagonist. Sein aktives Handeln war letztlich entscheidend dafür, dass die brisanten Informationen nicht länger vom autoritären Erdogan-Regime unterdrückt werden konnten, sondern an die Öffentlichkeit gelangten und weltweit im Hinblick auf notwendige Konsequenzen diskutiert werden konnten.

(3) Kriterium derInkaufnahme schwerer Nachteile(risking retaliation)

Trotz des gegenteiligen Rates seiner KollegInnen und Anwälte nahm Can Dündar bei seinem Vorgehen schwerste Repressionsrisiken auf sich. Niemand hätte es ihm verübeln können, wenn er unter den schon 2015 in der Türkei herrschenden Repressionsbedingungen sowie der für ihn konkret bestehenden Gefahr der Verhaftung und einer längeren Freiheitsstrafe die Veröffentlichung unterlassen hätte.

Zunächst blieb nach der Enthüllung zwar die befürchtete repressive Reaktion des Regimes aus. Bei der Wahl zum türkischen Parlament am 7. Juni 2015 erzielten die Oppositionsparteien einen beachtlichen Erfolg. Die AKP verlor ihre bisherige absolute Mehrheit und konnte keine neue Regierung bilden. Kurz nach der erneuten Parlamentswahl im November 2015, bei der die AKP mit einem Zuwachs von ca. 5 Millionen Stimmen einen Erdrutschsieg erzielte, wurde Can Dündar jedoch zusammen mit dem Hauptstadtkorrespondenten Erdem Gül am 26. November 2015 unter dem Vorwurf verhaftet, durch die Veröffentlichung über den Waffentransport inCumhuriyetvom 29. Mai 2015 ein Staatsgeheimnis enthüllt und angeblich derFetullah-TerrororganisationHilfe geleistet zu haben. Später wurde die Anklage der Staatsanwaltschaft erweitert auf den Vorwurf der Spionage. In der 473-seitigen Anklageschrift vom 27. Januar 2016 forderte die Staatsanwaltschaft für Can Dündarwie seinerzeit bei Abdullah Öcalaneine Strafe von zweimal lebenslänglich und zusätzlichen 30 Jahren Freiheitsstrafe. Dündar und Gül kamen in mehrmonatige Einzelhaft und unterlagen so völliger Isolation im Gefängnis von Silivri.

Nachdem das türkische Verfassungsgericht in seiner damaligen Besetzungseither wurden mehrere Richter abgelöstam 25. Februar 2016 die Haftbefehle gegen Can Dündar und den Mitangeklagten Erdem Gül mit der Begründung aufgehoben hatte, die beiden hätten keine Straftat begangen, sondern lediglich ihren Job als Journalisten gemacht, strengte die Staatsanwaltschaft ein neues Verfahren wegen desselben Sachverhalts an und erreichte, dass beide am 6. Mai 2016 in erster Instanz zu Strafen von 5 Jahren und 10 Monaten (Dündar) sowie 5 Jahren (Gül) verurteilt wurden. Sie blieben aber auf freiem Fuß und im Besitz ihrer Pässe.

Am 6. Mai 2016 entging Can Dündar in einer Verhandlungspause unmittelbar vor dem Gerichtssaal nur knapp einem Attentat. Auf ihn wurden mehrere Schüsse abgegeben, die ihn nur deshalb nicht trafen, weil seine Frau dem Attentäter in den Arm gefallen war.

Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt, über die bis jetzt (September 2017) noch nicht entschieden ist.

Inzwischen wurde der CHP-Abgeordnete Enis Berberoglu als angeblicher Überbringer des Video-Sticks an Dündar zu 25 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt (Dündar hatte sich geweigert, seinen Informanten zu nennen.) Auch in dem Strafverfahren gegen 17 Redakteure derCumhuriyet, das gegenwärtig im Gange ist, spielt die Veröffentlichung vom 29. Mai 2015 zu denLKWs des Geheimdiensteseine zentrale Rolle.

Nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei reiste Can Dündar Anfang Juli 2016 nach Deutschland aus und lebt seither im Exil. In Deutschland betreibt er nun im Rahmen des Recherchenetzwerkscorrectivu.a. die zweisprachige InternetseiteÖzgürüzmit Artikeln zur politischen Entwicklung in der Türkei.

(4) KriteriumOrientierung am Gemeinwohl(serving the public interest)

Can Dündars Enthüllungen dienten dem Gemeinwohl. Er deckte trotz der unter dem Erdogan-Regime herrschenden schwierigen Repressionsbedingungen und unter Inkaufnahme schwerer persönlicher Nachteile die völkerrechtswidrige, bis dato geleugnete und mit dem türkischen Parlament nicht abgestimmte Waffenlieferung der türkischen Regierung an islamistische, regierungsfeindliche Rebellen in Syrien auf.

Schon die Tatsache, dass die türkische Regierung u.a. Kämpfer des IS ungehindert nach Syrien einreisen ließ und ihnen logistisch einen Nachschub- und Rückzugsraum (z.B. durch medizinische Behandlung verletzter IS-Kämpfer) eröffnete, muss als eine völkerrechtlich unzulässige Intervention in den souveränen Nachbarstaat Syrien qualifiziert werden. Die Lieferung von Waffen an aufständische terroristische Gruppen in Syrien ist aus den bereits dargelegten Gründen ein schwerer Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot, jedenfalls gegen das völkergewohnheitsrechtliche Interventionsverbot. Es besteht ein großes öffentliches Interesse daran, die Verletzung des Völkerrechts durch Interventionen dritter Staaten in bewaffnete Auseinandersetzungen innerhalb eines anderen Staates anzuprangern. Diese Völkerrechtsverstöße durch das NATO-Mitglied Türkei sind auch durch den NATO-Vertrag nicht gedeckt. Alle NATO-Vertragsstaaten sind nach Art. 2 des NATO-Vertrages verpflichtet, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist(Art. 2).

 

Die durch Can Dündar veranlassten und federführend verantworteten Enthüllungen erfolgten uneigennützig und nicht zum Zwecke der Auflagensteigerung seiner Zeitung. Es bestand ein erhebliches öffentliches Interesse an diesen Informationen. Allein aus diesem Grund brachte Dündar sie prominent auf die Titelseite und schaffte es somit, eine Vielzahl an LeserInnen zu erreichen.



Die Preisverleihung rückt nicht nur die schon vor dem gescheiterten Putsch in der Türkei vom 15./16.07.2016 existente, seit der Verhängung desAusnahmezustandsjedoch weiter verstärkte Repressionspraxis des Erdogan-Regimes insbesondere gegenüber der Presse und den Medien in das Scheinwerferlicht. Sie verweist zugleich auf die bis heute anhaltenden Debatten über die Vorgänge in Deutschland, die zumWeltbühne-Prozessvon 1931 führten, in dem Carl von Ossietzky und der Flugzeugexperte Walter Kreiser wegen Verrats illegaler militärischer Staatsgeheimnisse zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Sie hatten in einem Artikel von 1929 die durch den Vertrag von Versailles und die Weimarer Reichsverfassung verbotene Luftwaffen-Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt.

Wäre Can Dündar bei Anwendung unseres deutschen Strafrechts straflos geblieben? Kann die Veröffentlichung von Geheimnissen, die nur der Verdeckung von Unrecht dienen, überhaupt ein vom Strafrecht schützenswertes Geheimnis sein?

Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts schließt die Rechts-, ja sogar die Verfassungswidrigkeit der von staatlichen Behörden geheim gehaltenen Vorgänge die Geheimniseigenschaft und damit auch die Strafbarkeit der Enthüllung eines Staats- oder Dienstgeheimnisses nicht aus. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts sowie viele Autoren im Fachschrifttum stehen dieser Rechtsauffassung des Reichsgerichts im Ergebnis bis heute nahe, indem sie allenfalls bei einemevidenten, besonders schweren Verfassungsverstoß, der eine sofortige Unterrichtung der Öffentlichkeit erfordert, die Veröffentlichung verfassungswidriger Staats- oder Dienstgeheimnisses für gerechtfertigt halten. Ansonsten müsse vor einer öffentlichen Aufdeckung erst erfolglos Beschwerde beim Behördenleiter, beim zuständigen Minister oder bei einem Abgeordneten des Bundestags oder bei dessen Petitionsausschuss erhoben werden (BVerfGE 28, 191 vom 28.4.1970 - Fall Paetsch; vgl. hierzu näher: Deiseroth, Illegale Staats- und Dienstgeheimnisse und ihre EnthüllungLessons learnt?, in: Betrifft Justiz Heft 117 vom März 2014, S. 511, auch zugänglich unter: http://betrifftjustiz.de/wp-content/uploads/texte/Ganze_Hefte/BJ%20117_web.pdf).

Bei den Enthüllungen Can Dündars über die illegalen Waffenlieferungen des Erdogan-Regimes an terroristische Gruppierungen in Syrien dürften diese Voraussetzungen einesevidenten, besonders schweren Verfassungsverstoß, der eine sofortige Unterrichtung der Öffentlichkeit erfordertaus den dargelegten Gründen in der Sache sicher erfüllt gewesen sein. Ob deutsche Gerichte dies erkannt hätten, ist freilich alles andere als gewiss. Ohne das im Bundestag immer wieder blockierte, indes dringend notwendige Gesetz zum Schutz von Whistleblowern sitzen wir hier im Glashaus.

 

Berlin, im September/Oktober 2017

 

Gemeinsame Jury derVereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)und der Deutschen Sektion der IALANA zur Verleihung desWhistleblower-Preises:

Gerhard Baisch, Rechtsanwalt in Bremen

Dr. Dieter Deiseroth, ehem. Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig

Juliane Drechsel-Grau, Studentin der Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin

Prof. Dr. Hartmut Graßl, Klimaforscher, früherer Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg

Dr. Angelika Hilbeck, Agrarökologin am Institut für Integrative Biologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich

 

Anhang:

Nachweise und weitere Informationen:

Am 1.3.2017 nahm Dündar in einem eigenen Video beiÖzgürüz ausführlich Stellung zu denLKWs des türkischen Geheimdienstesund der Geschichte der Veröffentlichung des von ihm alsIrangate der Türkeibezeichneten Skandals mit vielen erstmals veröffentlichten Videoaufnahmen von der Durchsuchung. Das 33-minütige Video ist in türkischer Sprache gehalten, aber mit deutschen Untertiteln: https://www.youtube.com/watch?v=5MGUwhjArug&feature=youtu.be

Weiter berichtet Dündar über die Veröffentlichung des inkriminierten Artikels vom 29.5.2015 und die Zeit der Untersuchungshaft bis zu seiner Haftentlassung am 26. 2.2016 in dem schon zitierten Buch: Can Dündar, Lebenslang für die Wahrheit, 2016 in deutscher Übersetzung erschienen bei Hoffmann und Campe, 299 Seiten, ISBN 978-3-455-50424-8

Das ARD Fernsehen brachte am 17.7.17 einen Film über Can Dündar <Exil Deutschland- Abschied von der Türkei> , der noch bis 17.7.18 verfügbar bleibt ( Dauer 45 min.)

http://mediathek.daserste.de/Reportage-Dokumentation/Exil-Deutschland-Abschied-von-der-T%C3%BCrk/Video?bcastId=799280&documentId=44467232

Video zu dem Attentat auf Dündar am 6.5.2016

http://www.spiegel.de/video/schuesse-auf-cumhuriyet-chefredakteur-can-duendar-video-1671848.html

Enthüllung eines geheimen Protokolls - Spiegel vom 17.01.15 zu @LazepeM-Enthüllung

http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkischer-geheimdienst-soll-waffen-an-al-qaida-geliefert-haben-a-1013499.html

aus türkischen Webseiten

Entscheidung des Verfassungsgerichts in S. Dündar und Gül vom 26.2.2016

http://kararlaryeni.anayasa.gov.tr/BireyselKarar/Content/131a2423-8a42-4f99-8ff2-b5e6a979280c?wordsOnly=False

Entscheidung des Strafgericht Istanbul in1. Instanz in Sachen Dündar und Gül

http://www.sozcu.com.tr/2016/gundem/iste-mit-tirlari-davasinin-gerekceli-karari-1232619/

BBC -Türkei von 2017 zur Geschichte des Skandals

http://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-40275619

Hurriyet zum Urteil gegen Berberoglu:

http://www.hurriyet.com.tr/amp/enis-berberogluna-verilen-cezanin-gerekceli-karari-cikti-40500323