Daniel Ellsberg hat Anfang der 70er Jahre die »Pentagon-Papers« zur jahrzehntelangen Verstrickung der USA in den Vietnam-Krieg an die Presse gegeben. Er selber hatte als Wissenschaftler an der Zusammenstellung dieser streng vertraulichen Dokumentation im US-Verteidigungsministerium mitgearbeitet. Die Nixon-Regierung reagierte seinerzeit mit massiven Eingriffen in die Pressefreiheit und mit der persönlichen juristischen Verfolgung Ellsbergs um zu verhindern, dass das Ausmaß von Lüge und amtlicher Täuschung der amerikanischen Öffentlichkeit bekannt würde.

Die Veröffentlichung der »Pentagon Papers« hat damals in ganz entscheidendem Maße zur Enthüllung der schmutzigen Hintergründe des Vietnam-Krieges, zum weiteren Anwachsen des Widerstandes der nationalen und internationalen Öffentlichkeit und damit letztlich auch zum Ende des Vietnam-Krieges beigetragen.


 
Daniel Ellsberg: Secrets - Eine Erinnerung an Vietnam und die Pentagon Papers *
 
hieraus: Kapitel III. Der Weg in die Eskalation
 
Der Tag, an dem ich über Vietnam zu arbeiten begann, endete
mit der im Fernsehen übertragenen Versicherung des
Präsidenten: "Wir wollen keine Ausweitung des Krieges“. Dies
wurde bald zu einem Hauptthema seiner Wahlkampagne.
Aber jeder Beamte, mit dem ich in diesem Sommer und Herbst in
Washington zu tun hatte, erwartete einen offenen Krieg unter
Präsident Johnson spätestens zu Beginn des neuen Jahres.
Ausnahmslos jeder in der Regierung teilte seit dem Frühjahr
1964 die Auffassung, dass der seinerzeitige Kurs der US Politik
in Vietnam, der die offene Beteiligung auf Finanzierung,
Ausrüstung und die Entsendung von Beratern im Süden
begrenzte, dabei war zu scheitern; und zwar rasch. Wenn die
Vereinigten Staaten ihre Rolle nicht erweiterten, was die direkte
Teilnahme an den Kämpfen, entweder durch Angriffe der
Luftwaffe oder der Marine auf den Norden, oder durch
Bodentruppen im Süden, oder beides einschloss, würden die von
den Kommunisten geführten Truppen Südvietnam innerhalb von
Monaten einnehmen. Dies würde eintreten als Resultat einer
Kombination aus einem kommunistischen militärischen Sieg,
einem Zusammenbruch des antikommunistischen Regimes oder
seiner Armee, oder durch Verhandlungen zwischen den
Vietnamesen. In diesem Punkt gab es niemanden, der nicht in
internen Regierungsdiskussionen mit Senator Goldwater oder
seinen republikanischen Kollegen übereingestimmt hätte.

Noch gab es irgend jemanden, sofern ich das beurteilen kann, der von
dem internen Konsens abwich, wonach die Niederlage selbst
kurzfristig nur durch die Übernahme einer direkten Rolle der
USA an den Kämpfen abgewendet werden könnte. Die einzige
interne Kontroverse das Jahr 1964 hindurch betraf die Frage,
wann und auf welchem Anfangsniveau sie beginnen müsste und
welche Form sie haben sollte. Mit Ausnahme seines
Vorsitzenden Maxwell Taylor waren die Vereinigten Stabschefs
dafür, sofort mit einem großangelegten
Bombardierungsprogramm bis zur chinesischen Grenze hinauf
zu beginnen, begleitet von der Verminung der
nordvietnamesischen Häfen und Wasserstraßen. General Taylor,
der zu Jahresmitte Botschafter in Saigon wurde, war aus
taktischen Gründen damit nicht einverstanden. Wie einige
Zivilisten bevorzugte er ein eher schrittweises Vorgehen, das
später beginnen sollte, in der Hoffnung, dass die
südvietnamesische Regierung sich zuvor etwas stabilisieren
würde. (Die Generäle, die im November Präsident Ngo Dinh
Diem abgesetzt hatten, waren selbst Anfang 1964 durch einen
Putsch von General Nguyen Khanh von der Macht vertrieben
worden.) Johnson hatte all diese Fragen des Zeitplans und der
Taktik noch nicht entschieden.
Ebenso hatte er auch noch keine Entscheidung über die
grundsätzliche Frage „eskalieren oder abziehen“ getroffen. Aber
im Pentagon oder an jedem anderen Ort, den ich in Washington
aufsuchte, herrschte wenig Zweifel darüber, wie seine
Entscheidung zwischen diesen Alternativen ausfallen würde.
Bereits zwei Tage nach seiner Amtsübernahme hatte er in der
Regierung klar gemacht, dass er entschlossen war, ein Scheitern
oder eine Niederlage in Vietnam nicht zu akzeptieren. Er wolle
nicht der Präsident sein, der zusah, wie Südostasien auf dem
Weg Chinas folgt. Sein Außenminister und sein
Verteidigungsminister ebenso wie die Vereinigten Stabschefs
teilten diese Verpflichtung. Mehr noch, seit sowohl die
Stabschefs als auch Verteidigungsminister McNamara fest
davon überzeugt waren, dass eine Form von
Bombardierungskampagne gegen den Norden unerlässlich war,
um eine Niederlage zu vermeiden, galt es im Pentagon als
sicher, dass der Präsident dazu gelangen würde, diese Lösung zu
akzeptieren. Der Präsident fürchtete jedoch offensichtlich, vor
den Wahlen im November eine Entscheidung zu treffen und sie
umzusetzen. Er wollte Goldwater nicht nur schlagen - alle
Umfragen zeigten, dass das praktisch schon eine ausgemachte
Sache war - er wollte mit dem höchstmöglichen Ergebnis
gewinnen, am liebsten durch den größten Erdrutsch in der
Geschichte. Das würde den Eindruck auslöschen, wonach er ein
„zufälliger Präsident“ sei.

Er wollte ein starkes Mandat für seine großen
Gesellschaftsprogramme. Gemeinsam mit vielen anderen
Demokraten hoffte er, den rechten Flügel der Republikaner zu
zerschlagen, der die Kandidatur von Goldwater unterstützte. Er
wollte die Wahlkampagne als der vernünftige, gemäßigte
Friedenskandidat führen und innenpolitische Themen betonen
während er seinen Gegner als gefährlichen, unausgewogenen
Extremisten zeichnete, der nur darauf brannte, das Engagement
in Vietnam zu eskalieren bis hin zum vollentwickelten Krieg.
Gleichzeitig musste er Goldwaters Vorwurf begegnen, er sei in
der Außenpolitik schwach und unentschlossen. Die auf einen
Militärschlag begrenzte „zurückhaltende
Vergeltungsmaßnahme“ vom 5. August passte unglaublich gut
in sein Wahlkampfkonzept. Er schoss nach oben in den
Umfragen und Unterstützung aus beiden Parteien für seine
Aktion und die hierzu abgefasste Erklärung nahmen das Thema
Vietnam aus dem Wahlkampf, es sei denn als Minuspunkt für
Goldwater. Nach den Tonking Bucht Vergeltungsmaßnahmen
hoffte Johnson jedoch sehr, bis zu den Wahlen jeden weiteren
größeren militärischen Schritt vermeiden und den Druck in
seiner eigenen Administration in Richtung Eskalation unter der
Decke halten zu können. Er führte einen großen Teil seines
Wahlkampfs gegen Goldwaters Vorschläge für Vietnam, die
ironischerweise identisch waren mit denjenigen von Johnsons
eigenen Generalstabschefs. Diese letztgenannte Tatsache war
ein wohlgehütetes Geheimnis während des Wahlkampfs.

Am 25.September kritisierte der Präsident „diejenigen, die sagen, ihr
müsst nach Norden gehen und Bomben werfen, um zu
versuchen, ihre Nachschubwege auszuradieren.“ Drei Tage
später wurde er noch genauer: "Einige von unseren Leuten - Mr.
Nixon, Mr. Rockefeller, Mr. Scranton und Mr. Goldwater -
haben alle bei der einen oder anderen Gelegenheit gesagt, es sei
klug, nach Norden zu gehen in Vietnam.“ Weder dabei noch zu
irgend einer anderen Zeit erwähnte er, dass die Leute, die dies
vorschlugen, alle seine eigenen wichtigsten militärischen
Berater, die Vereinigten Stabschefs und seinen
Verteidigungsminister Robert McNamara mit einschlossen. Es
stimmt zwar, dass der Präsident sich vor der Wahl noch nicht
darauf verpflichtet hatte, ihrem Rat zu folgen und sicherlich
hatte er hierzu noch keine öffentliche Festlegung getroffen, aber
sie und diejenigen von uns, die für sie arbeiteten wussten, dass
er genauso scharf wie jeder der von ihm genannten
Republikaner die Position derer ablehnte, die sagten, „wir
müssen in den Süden gehen und uns herausziehen und nach
Hause gehen." Ausgehend von den Ansichten seiner
Hauptberater im Pentagon wussten Insider dies so zu deuten,
dass eine Bombardierung Nordvietnams spätestens Anfang 1965
bevorstand, welcher Kandidat auch immer gewählt würde.
Es bestand kaum eine Chance, dass die Rolle der USA sich von
da an noch an die zwischen 1945 und 1964 beachteten Grenzen
halten würde. Das war es jedoch, was die meisten Wähler
dachten, was Johnson mit seinem Wahlkampfslogan "Wir
wollen keine Ausweitung des Krieges“ meinen würde. Das war
es, was eine überwältigende Mehrheit von ihnen glaubte, als sie
am 3. November zur Wahl gingen. Innerhalb der Regierung gab
es hingegen niemanden, den ich kannte, der mit dieser Illusion
seine Stimme abgab. Ich kann mich nicht erinnern, an diesem
Tag Zeit dazu gehabt zu haben, selbst wählen zu gehen und ich
bezweifle dies auch für McNaughton.

Wir beide nahmen an der ersten Sitzung einer interministeriellen Arbeitsgruppe im
Außenministerium teil, die sich damit befasste, auf welche Art
und Weise der Krieg auszuweiten war. Die Gruppe war am
Vortag vom Präsidenten zusammengestellt und der
stellvertretende Außenminister William P. Bundy war mit der
Leitung beauftragt worden. Sie hatte ihre Arbeit nicht eine
Woche früher aufgenommen, weil ihr Arbeitsauftrag dann noch
zu den Wählern hätte durchsickern können. Dies hätte den
Erdrutschsieg für Johnson beträchtlich verringern können, der
auf einer völlig übertriebenen Annahme beruhte, was den
Unterschied zwischen den beiden Kandidaten in ihrer Haltung
zum Krieg anbelangte.

Mehr noch begannen wir mit der Arbeit auch nicht einen Tag
oder eine Woche später als die Stimmen ausgezählt wurden,
denn es gab keine Zeit zu verlieren.
Es erschien dringend, intern zu einem Konsens zu gelangen, wie
durch eine Ausweitung des Krieges ein kommunistischer Sieg in
Vietnam abzuwenden war. Außer der Status-quo-Option eines
Strohmanns erforderten alle Alternativen, die wir erwogen, eine
Eskalation. An dem Tag als die Wähler, wie nach den
Umfrageergebnissen erwartet, in noch nie da gewesenen Zahlen
gegen eine Bombardierung Nordvietnams oder anderweitige
Eskalation des Krieges stimmten, arbeiteten wir daran, gerade
eine solche Politik in Gang zu setzen. Wie konnten wir das
rechtfertigen?

Wir dienten dem Präsidenten und unseren unmittelbaren
Vorgesetzten. Nach unserem Verständnis war es die Aufgabe
des Präsidenten, die Außenpolitik zu machen, mit dem Rat
unserer Vorgesetzten, nicht, in irgend einem ernsthaften Sinn,
mit dem Rat des Kongresses. Es bedeutete uns nicht viel, was
die Öffentlichkeit dachte.

Schließlich kam es auch nicht darauf an, was wir selbst dachten.
Ich erfuhr bald von John McNaughton, dass Lyndon Johnson
skeptisch war, was den Wert einer systematischen
Bombardierung des Nordens anbelangte. Ich selbst war mehr als
skeptisch, ebenso McNaughton. Aber unser Boss, McNamara,
war es nicht, und für ihn arbeiteten wir.
aus: *Daniel Ellsberg, Secrets – A Memoir of Vietnam and The Pentagon Papers,
Hardcover 2002 Viking Books ISBN 0670030309
Paperback 2003 Penguin ISBN 0142003425

Auszug übersetzt und gelesen anlässlich der Verleihung des Whistle-Blower
Preises an Daniel Ellsberg am 21.11.2003 in Berlin von Rechtsanwalt Otto
Jäckel

Veröffentlichung:

Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.),   Whistleblowerpreis 2003   Daniel Ellsberg

Berlin 2004, 66 S., kart., ISBN 3-8305-0973-1

Den Whistleblower-Preis 2003 erhielt der Amerikaner Daniel Ellsberg - für sein Lebenswerk.

Anfang der 70er Jahre machte Ellsberg die sogenannten Pentagon-Papers zur jahrzehntelangen Verstrickung der US-Regierung in den Vietnam-Krieg der Öffentlichkeit zugänglich. Er selber hatte als Wissenschaftler an der Zusammenstellung dieser Dokumentation im USVerteidigungsministerium mitgearbeitet. Die Nixon-Administration reagierte mit massiven Behinderungen der Pressefreiheit und der persönlichen juristischen Verfolgung Ellsbergs, um zu verhindern, dass das ganze Ausmaß von Lüge und amtlicher Täuschung der amerikanischen Öffentlichkeit bekannt würde.

Der "Fall" Daniel Ellsberg führt vor Augen, welch wichtige Rolle Whistleblower bei der Delegitimierung von Kriegen spielen können. Die Enthüllung der Pentagon Papers hat damals in ganz entscheidendem Maße zur Offenlegung der schmutzigen Hintergründe des Vietnam-Krieges, zum weiteren Anwachsen des Widerstandes der nationalen und internationalen Öffentlichkeit und damit letztlich auch zum Ende des Vietnam-Krieges beigetragen. Bis heute hat Daniel Ellsberg in seinem Engagement nicht nachgelassen, Rechtsbrüche, Lügen oder Verschleierungsmanöver vor allem in der Militär- und Sicherheitspolitik aufzudecken und aufdecken zu helfen. Er ist - ebenso wie Mordechai Vanunu - weltweit zu einer Symbolfigur und zum Vorbild für Whistleblower geworden.