Auf dem bevorstehenden Gipfel in Lissabon am 19. – 21. November 2010 werden die Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten eine neue NATO-Strategie beschließen. Unter der Leitung der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright hat eine Expertenkommission im Mai 2010 Leitlinien für ein neues strategisches Konzept erarbeitet. Auf der Grundlage dieses Papiers will NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen den Außen- und Verteidigungsministern der NATO-Mitgliedsstaaten vorab einen Textvorschlag vorlegen, den diese am 14. November 2010 diskutieren wollen. Die Papiere werden vor der Öffentlichkeit geheim gehalten.

Bekannt gewordene Einzelheiten deuten darauf hin, dass die darin getroffene Risiko-Analyse der NATO fast alle großen Probleme der Menschheit erfasst, unter anderem

-        knapper werdende Energiequellen (Energiesicherheit)

-        Klimawandel

-        Erderwärmung

-        Hunger und Armut

-        Migration

-        zerfallende Staaten

-        wachsende Gewalt

-        internationaler Terrorismus

-        Cyber-Attacken.

Diese Risiken werden von den meisten aller Staaten weltweit geteilt. Sie bedürfen zu ihrer Bewältigung vor allem der Antworten und Lösungen der Zivilgesellschaften. Militärische Aktionen verschlimmern die Probleme in der Regel, anstatt sie lösen zu helfen.

Soweit die NATO aus diesen Risiken Bedrohungen der Mitgliedsstaaten ableitet, ergibt sich daraus noch kein Recht zum militärischen Eingreifen. Nur bei bewaffneten Angriffen gegen NATO-Mitgliedsstaaten normiert Art. 5 des NATO-Vertrages die Beistandspflicht der NATO im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta.

Die Ausweitung des Sicherheitsbegriffs der NATO ohne Abänderung des NATO-Vertrages ist nicht zu rechtfertigen. Die Suche der NATO nach neuen Aufgaben jenseits der Verteidigung der Mitgliedsstaaten seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation bedarf einer Änderung des NATO-Vertrages. Denn nur durch geordnete Gesetzgebungsverfahren in den einzelnen Mitgliedsstaaten wird die gebotene demokratische und rechtsstaatliche Beteiligung der betroffenen Menschen gewährleistet.

In dem bekannt gewordenen Strategie-Konzept sind zwei Punkte rechtlich besonders problematisch:

1) Dem Vernehmen nach sind die Verfasser der neuen NATO-Strategie der Auffassung, dass die über das geltende Völkerrecht hinausweisende „Responibility to Protect“ unter bestimmten Umständen sogenannte „humanitäre Militärinterventionen“ rechtfertige und eine ausreichende Rechtsgrundlage für NATO-Einsätze bilden könne. Diese Auffassung knüpft an die Argumentation an, mit der die NATO den Militäreinsatz gegen Serbien im Jugoslawien-Krieg gerechtfertigt hatte, für den ein UN-Mandat nicht vorlag.

IALANA weist mit Nachdruck darauf hin, dass die Anwendung militärischer Gewalt gegen einen anderen Staat durch einen Einzelstaat oder ein Staatenbündnis wie die NATO – auch wenn sie nicht als Krieg, sondern als „humanitäre Intervention“ deklariert wird – den Tatbestand des völkerrechtlichen Gewaltverbots des Art. 2 Ziff.4 UN-Charta verletzt. Der Anspruch jedes Staates auf Achtung seiner territorialen Integrität beinhaltet, dass kein militärischer Übergriff auf sein Staatsgebiet vorgenommen werden darf.

Das gelegentlich vertretene Argument, das Gewaltverbot des Art.2 Ziff.4 UN-Charta stehe unter dem Vorbehalt eines funktionierenden kollektiven Sicherheitssystems, findet im Wortlaut, der Systematik und der Entstehungsgeschichte der UN-Charta keine Stütze. Der Befürchtung des möglichen Versagens des UN-Friedenssicherungssystems wurde mit der Verankerung des Selbstverteidigungsrechtes des Art. 51 UN-Charta begegnet. Dieses normiert, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ein UN-Mitglied dieses das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung hat, bis der UN-Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Damit ist bewusst die Möglichkeit ausgeschlossen worden, dass UN-Mitgliedsstaaten das kollektive Sicherheitssystem der UN-Charta beiseite schieben und eigenmächtige Militäraktionen durchführen.

Nach der UN-Charta, zu deren strikter Einhaltung sich die NATO in Art. 1 NATO-Vertrag ausdrücklich verpflichtet hat, ist militärische Gewalt nur in denjenigen Fällen rechtmäßig, die in der Charta als Ausnahmen von Art. 2 Ziff.4 ausdrücklich normiert sind. Diese sind ausschließlich

-        Art. 42 (Gewaltanwendung durch den UN-Sicherheitsrat nach der förmlichen Feststellung einer Bedrohung oder eines Bruchs des Friedens oder einer Angriffshandlung),

-        Art. 51 (individuelle oder kollektive Selbstverteidigung, bis der UN-Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen trifft) und

-        Art. 52 (Gewaltanwendung durch regionale Sicherheitseinrichtungen mit Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates auf der Grundlage von Art. 42).

Ein darüber hinaus gehendes Völkergewohnheitsrecht zur Durchführung so genannter „humanitärer Interventionen“ in Ausübung einer „Responsibility to Protect“ hat sich nicht entwickelt. Weder gibt es eine anerkannte Staatenpraxis, noch eine ihr zugrunde liegende einheitliche Rechtsauffassung der Staaten. Die seit Gründung der UN mit humanitären Zielsetzungen gerechtfertigten Militärinterventionen sind alle uneinheitlich und kontrovers rechtlich beurteilt worden. Sie haben teilweise Zustimmung, aber auch erhebliche Kritik hervorgerufen (z.B. Jugoslawien, Irak). Gewohnheitsrecht kann jedoch nur entstehen, wenn sich eine dauerhafte, einheitliche und allgemein verbreitete Staatenpraxis und dazu eine gemeinsame Rechtsüberzeugung von der Geltung eines solchen Rechtssatzes entwickeln.

IALANA fordert, in das Strategie-Papier der NATO die eindeutige Erklärung aufzunehmen, dass (entsprechend Art. 1 NATO-Vertrag) jede Entscheidung über einen Militäreinsatz nur im Einklang mit dem Völkerrecht und insbesondere der UN-Charta getroffen wird.

2) Dem Vernehmen nach wird die NATO das Prinzip der nuklearen Abschreckung beibehalten. Atomwaffen seien für die NATO unverzichtbar, hat Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erklärt. Solange Atomwaffen existieren, soll die NATO sichere und verlässliche Nuklearkräfte behalten und die breit angelegte Verantwortung für die Stationierung und die operative Unterstützung fortsetzen. Dementsprechend ist der Abzug der in Europa im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ stationierten US-amerikanischen substrategischen Atomwaffen nicht vorgesehen.

Diese Strategie verkennt, dass im nuklearen Zeitalter Sicherheit nicht einseitig, sondern nur gemeinsam mit dem potentiellen Gegner erreicht werden kann. Zudem haben die bislang stationierten Atomwaffen weder Sicherheit gegeben noch Kriege verhindern können. In zahlreichen gut dokumentierten Situationen der letzten Jahrzehnte stand die Welt aufgrund von Angriffs-Fehlmeldungen nahe am nuklearen Abgrund. Das Überleben der Menschheit ist dabei letztlich nicht der Umsicht der Politiker und Militärs, sondern vor allem glücklichen Umständen zu verdanken. Die Strategie der nuklearen Abschreckung kann allenfalls bei rational kalkulierenden Gegnern funktionieren, fehlt die Zeit oder die Kapazität zur Beurteilung oder handelt es sich um einen irrational entscheidenden Gegner, versagt das System ebenso wie bei menschlichen Fehleinschätzungen oder technischen Versagen.

Durch die nahezu unveränderte Atomwaffenstrategie missachtet die NATO weiterhin das verbindliche Völkerrechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (IGH) vom 8. Juli 1996. Mit diesem hat der IGH festgestellt, dass die Drohung mit dem Einsatz und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich völkerrechtswidrig sind, weil das humanitäre Kriegsvölkerrecht die Anwendung von Waffen verbietet, die nicht unterscheiden zwischen kämpfender Truppe und Zivilbevölkerung, die unnötige Grausamkeiten und Leiden verursachen und die unbeteiligte und neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Rechtfertigungsgründe für die Androhung und den Einsatz von Atomwaffen gibt es nicht. Auch im Falle einer extremen Notwehrlage, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, hat der verteidigende Staat die Regeln und die Prinzipien des humanitären Kriegsvölkerrechts zu beachten. Das ist mit den existierenden Atomwaffen nicht möglich.

Der IGH hat in dem Gutachten auch festgestellt, dass noch über Art. VI Nichtverbreitungsvertrag (NPT) hinaus die völkerrechtliche Verpflichtung aller Staaten besteht, Verhandlungen in redlicher Absicht aufzunehmen und zum Abschluss zu bringen, die zu einer vollständigen atomaren Abrüstung unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.

Die Nuklearstrategie der NATO, auf unabsehbare Zeit Atomwaffen eine wesentliche Rolle in der Gesamtstrategie zuzuweisen, den möglichen Atomwaffeneinsatz nicht auf extreme Notwehrlagen zu beschränken, in denen das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, und sich den Ersteinsatz von Atomwaffen vorzubehalten, verstößt deshalb gegen das Gutachten des IGH vom 8. Juli 1996 und ist völkerrechtswidrig.

Die Verpflichtung zur vollständigen atomaren Abrüstung, die in den Abschlusserklärungen der NPT-Überprüfungskonferenzen 2000 und 2010 ausdrücklich erwähnt worden sind, findet in der NATO kein Gehör. Der vom UN-Generalsekretär den UN-Mitgliedsstaaten zur Stellungnahme übersandte Entwurf einer Nuklearwaffenkonvention, der ebenfalls in der Abschlusserklärung der NPT-Überprüfungskonferenz 2010 ausdrücklich erwähnt wird, wird von der NATO nicht zur Kenntnis genommen. So entsteht der fatale Eindruck, als sei die NATO ein völkerrechtsfreier Raum ohne rechtliche Bindungen und Verpflichtungen.

Die fortdauernde Stationierung von US-amerikanischen substrategischen Atomwaffen auf dem Gebiet von Nicht-Atomwaffenstaaten und die dabei praktizierte „nukleare Teilhabe“ verstoßen ebenfalls gegen das Völkerrecht. Der NPT verbietet den Atomwaffenstaaten die Weitergabe von Atomwaffen an Nicht-Atomwaffenstaaten und diesen die Verfügungsgewalt über Atomwaffen. Mit dem Bereithalten atomarer Trägersysteme und der ständig eingeübten Bereitschaft, die Atombomben im Einsatzfall mit eigenen Soldaten zu den Zielorten zu fliegen und abzuwerfen, haben die Nichtatomwaffenstaaten eine vom NPT verbotene Mitverfügung  über Atomwaffen. Deutschland verstößt mit der „nuklearen Teilhabe“ am Fliegerhorst Büchel zudem gegen den 2+4-Vertrag, mit dem Deutschland auf jegliche Verfügungsgewalt über Atomwaffen verzichtet hat. Dementsprechend hat das Bundesverteidigungsministerium den deutschen Soldaten den Einsatz von Atomwaffen ausdrücklich verboten und sie damit in eine unlösbare Konfliktlage gebracht.

Die Bundesregierung ist rechtlich gehindert, der neuen NATO-Strategie zuzustimmen, soweit diese gegen das Völkerrecht verstößt. Denn nach Art. 20 Abs.3 Grundgesetz (GG) ist auch die Bundesregierung an Recht und Gesetz gebunden. Dazu gehören nach Art. 25 GG neben den völkerrechtlichen Verträgen auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechts.

IALANA fordert die Bundesregierung auf, auf dem bevorstehenden NATO-Gipfel der neuen NATO-Strategie ausdrücklich die Zustimmung zu verweigern, soweit diese nicht mit dem Völkerrecht in Einklang steht.

B.H.