IMI-Analyse 2015/035  von: Karl Pekovic | Veröffentlicht am: 21. Oktober 2015

„Die Mehrheit der Zeitgenossen ist davon überzeugt, dass wir uns in einer geschichtlichen Phase des Übergangs in ein System der Weltordnung befinden, dessen zukünftige Gestalt allerdings ziemlich unklar ist. Die Sicherheit dieser Prognose beruht auf der Erfahrung der Aggressivität, mit der der Kapitalismus seine Globalisierung bis in die letzten Rohstofflager, Märkte und Dörfer betreibt. In dieser Dynamik der imperialen Okkupation aller Ressourcen der Erde finden wir sämtliche Mittel der Politik von der Drohung über die Erpressung, Täuschung und Bestechung bis hin zur gezielten militärischen Intervention und zum klassischen Krieg“[1].

Die von dem Politikwissenschaftler Norman Paech beschriebene Phase des Übergangs berührt die deutsche Außenpolitik in ihren Grundfesten. Der sich vollziehende Wandel lässt sich durch den gegenwärtigen Diskurs um eine „Neue deutsche Außenpolitik“[2] illustrieren, den Bundespräsident Joachim Gauck spätestens auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 zum Ausdruck brachte.

So bahnbrechend Gaucks Auftritt auch war, nahezu alle grundlegenden Gedanken bis hin zu wörtlichen Zitaten seiner Rede wurden bereits in dem Bericht des Projektes „Neue Macht – Neue Verantwortung“ formuliert. An dem Projekt nahmen zwischen November 2012 und September 2013 unter Leitung der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ und des „German Marshall Fund“ über 50 Personen des außen- und sicherheitspolitischen Establishments teil und zwar mit dem Anspruch nicht weniger als einer neuen „außenpolitischen Strategie für Deutschland“ den Weg zu ebnen.[3] Der deutsche Politologe Albrecht von Lucke fasste die Problematik der gauckschen Rede in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ prägnant zusammen: „Was Gaucks Rede […] so problematisch macht, ist die Tatsache, dass sie sich einfügt in den konzertierten Versuch, einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik herbeizuführen. Und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens den Wechsel von einer Kultur der Zurückhaltung zu einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit‘ (Josef Joffe), und zweitens den Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der Interessen.“[4] Dieser „Gauckismus“[5] ist als Elitenkonsens zu bewerten, der zum Ziel hat, Deutschland neben seiner wirtschaftlichen Vormachtstellung auch mit militärischen Mitteln als Vormacht in Europa und damit als Großmacht in der Welt zu etablieren.

Dieser Elitekonsens sieht sich mit einer teils konträren öffentlichen Meinung konfrontiert. In Umfragen sprechen sich regelmäßig mehr als die Hälfte der Befragten gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr aus[6]. Die Elite muss daher weiterhin um Hegemonie (Gramsci) kämpfen, um eine künftig (noch) aktivere Rolle der Bundeswehr in der Welt bzw. eine „Kultur des Engagements“ rechtfertigen zu können. Im Bericht „Neue Macht – Neue Verantwortung“ wird dies folgendermaßen formuliert: „Schließlich wird in Deutschland von Gestaltern wie Experten gern beklagt, es fehle der Gesellschaft an außenpolitischem Verständnis. […] Staatliche Außenpolitik muss deshalb lernen, ihre Ziele und Anliegen effektiver zu kommunizieren, um zu überzeugen – die eigenen Bürger ebenso wie die internationale Öffentlichkeit[7]. Es gilt für die Eliten daher, den Diskurs in allen gesellschaftlichen Bereichen zu führen und die Öffentlichkeit zu überzeugen. Auch im Bereich der Hochschule konnte das deutsche Großmachtstreben in den letzten Jahren zunehmend Fuß fassen. Als beispielhafter Verfechter der Gauckschen Aufrüstungsdoktrin ist Prof. Johannes Varwick, gegenwärtig Professor an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, zu nennen. Das Beispiel Varwick soll auch die Entwicklung an den Hochschulen illustrieren, da diese schlussendlich an konkreten Köpfen hängt, die sehr erfolgreich organisiert sind.

Varwick ist einer der wenigen Professoren in Deutschland, der äußerst offensiv und selbstbewusst versucht, den Diskurs einer „Kultur des Engagements“ an der Uni zu etablieren und dafür vom Sozialistisch-Demokratischen-Studierendenverband (SDS) in Halle (Saale) mit offenen Briefen und Aktionen angegangen wurde. Die Hochschule ist ein zusehends umkämpfter Raum, in dem antimilitaristische Positionen bereits einen schweren Stand haben. Es gilt daher die Hochschule einschließlich seiner Akteure zu analysieren, um Gegenstrategien zu entwickeln.

Varwick als Organischer Intellektueller

Die Organischen Intellektuellen sind für den italienischen Marxisten Antonio Gramsci mehr als rein akademisch tätige Wissenschaftler. Varwick ist ganz gramscianisch als Organischer Intellektueller zu bewerten. Gramsci war der Überzeugung, dass alle Menschen Intellektuelle seien, jedoch nur wenige in der Gesellschaft auch die Funktion eines Intellektuellen einnehmen. Ihre Funktion ist es, für bestimmte Interessen und Projekte Hegemonie zu produzieren, also gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten bzw. zu Gunsten der herrschenden Klasse zu verschieben. Mit anderen Worten: Varwick als Organischer Intellektueller wirbt auf verschiedenen „Kampffeldern“ für den Elitenkonsens einer „Kultur des Engagements“. Jenes kann über Bildung, Wissenschaft, Medien, Parteien, Interessenvereinigungen usw. praktiziert werden. Varwick ist im Grunde auf allen Ebenen aktiv.

Varwick wurde am 28. Februar 1968 in Aschaffenburg geboren und studierte später Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Wirtschaftspolitik in Münster und im englischen Leeds.[8] Danach promovierte Varwick als Stipendiat der der FDP nahestehenden „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“ von 1995-1998 am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster über das Thema „Sicherheit und Integration in Europa“. In den folgenden Jahren arbeitete er am Wissenschaftszentrum NRW sowie am Forschungsinstitut der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP) als Leiter des Bereichs europäische Sicherheitspolitik. Varwick ist bis heute Mitglied der DGAP, die als „sicherheitspolitischer“ (militärischer) Think Tank zu beurteilen ist.

Von 2000-2003 war Varwick wissenschaftlicher Assistent am Institut für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, bevor er 2003 als Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Europäische Integration und Internationale Organisation an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel berufen wurde. Im April und Mai desselben Jahres war Varwick Fellow am State Department in Washington. 2009-2013 folgte eine Professur für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im September und Oktober 2009 hatte er den Theodor-Heuss Chair am Instituto Technologico Autonomo de Mexiko und an der Universidad Nacional Autonoma de Mexico in Mexiko-City inne.

Gegenwärtig lehrt und forscht Varwick seit März 2013 als Professor für Internationale Beziehungen und Europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Militarisierung von Forschung und Lehre

Bei seiner Antrittsvorlesung[9] über „Global commons und Sicherheitspolitik“ im Mai 2014 formulierte Varwick seine politischen Absichten ganz eindeutig. Mit dem Thema wolle er signalisieren, dass der deutsche Diskurs über „Sicherheitspolitik“ ausbaufähig sei. Jenes gelte auch für die Debatte an deutschen Universitäten, in denen ein gehaltvoller „sicherheitspolitischer“ Streit selten sei. Bei dieser Gelegenheit zitierte Varwick den Bundespräsidenten Joachim Gauck: „Ist es nicht an der Zeit, dass die Hochschulen mehr anbieten als eine Handvoll Lehrstühle für die Analyse deutscher Außenpolitik? Muss nicht auch die Sicherheitsforschung gestärkt werden?“ Varwick bejahte diese rhetorische Frage des Bundespräsidenten und versicherte, seinen Beitrag dazu zu leisten.

Während seines Antrittssemesters an der Martin-Luther-Universität im Sommer 2013 lud Varwick sich in seiner Vorlesung Dr. phil. Ulf von Krause, Generalleutnant a.D., als Gastredner ein, der über die Rolle der Bundeswehr im Kontext deutscher „Sicherheitspolitik“ sprach. Auf den Vorwurf, Angehörige des Militärs an die Uni zu holen, reagierte Varwick mit der Bemerkung, dass Ulf von Krause in einer Doppelfunktion als „renommierter Politikwissenschaftler und ehemaliger General“ eingeladen worden sei, um über „sicherheitspolitische“ Themen zu sprechen[10]. Ulf von Krause ist auch schon bei Varwicks Antrittsvorlesung zu Gast gewesen.

Natürlich hat das Militär seine eigenen Theoretiker, aber diesen militärpolitischen Referenten hat Varwick ausgewählt, weil es genau der Diskurs einer „Kultur des Engagements“ und einer angeblich notwendigen „Normalisierung“ des gesellschaftlichen Verhältnisses zum Militär ist, den Varwick stark machen will. Warum lädt Varwick beispielsweise keine Wissenschaftler*innen aus der Friedens- und Konfliktforschung ein, die Krieg als politisches Mittel grundlegend ablehnen? Es geht ihm also um die Anerkennung des Militärs als Gesprächspartner an der Hochschule, die es zu kritisieren gilt, auch wenn von Krause noch Politikwissenschaftler ist.

In der Vorlesung zur „Neuen deutschen Außenpolitik“ im Sommersemester 2014 argumentierte Varwick ganz im Sinne Gaucks für eine „Kultur des Engagements“. Während der gesamten Vorlesung hat er weder den Kosovokrieg, den Irakkrieg noch den Afghanistankrieg erwähnt. Er verbreitete den Eindruck, dass die BRD seit 1945 an dem Grundsatz „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ festgehalten habe und sich nun endlich seiner internationalen Verantwortung bewusst werden müsse. Dass die Bundeswehr 2013 mit etwa 6.000 Soldaten im Ausland vertreten war und die Kosten der Auslandseinsätze für 2013 mit 1,1 Milliarden Euro veranschlagt waren[11], hat er verschwiegen und musste erst von Studierenden darauf hingewiesen werden.

Anstatt vergangene Erfahrungen mit Interventionen im Ausland zu diskutieren und die Legitimität von Gewalt als politisches Mittel in Frage zu stellen, betreibt Varwick eine Militarisierung der Lehre, indem er um die Zustimmung hierfür in der Bevölkerung wirbt, die einer militärisch (noch) aktiveren Rolle Deutschlands in der Welt gegenwärtig im Wege steht. Dabei bildet Varwick die Kontroversität des Gegenstandes nicht ab, sondern verfolgt ein politisches Ziel, welches er mit dem Gewand der Wissenschaft verhüllt. Es ist zumindest fraglich, ob Varwick dadurch nicht gegen das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens verstößt[12]. Die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination verschwimmt hier.

Den Inhalt der beschriebenen Vorlesung hat Varwick in einem Artikel im Juni 2014 in der „Zeitschrift Europäische Sicherheit und Technik“ (ESUT) veröffentlicht[13], die sich selbst als „führende Monatszeitschrift für Sicherheitspolitik und Wehrtechnik“ bezeichnet[14]. In der Zeitung werben Rheinmetall und RUAG neben Varwicks Text für Kampfjets und Maschinengewehre. Die ESUT ging unter anderem aus der Zeitschrift „Strategie & Technik“ hervor, die 1958 als Dienstzeitschrift der Bundeswehr gegründet wurde. Zur gegenwärtigen Situation heißt es auf der Homepage der Zeitschrift: „Europäische Sicherheit & Technik wird auf vertraglicher Grundlage in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung / der Bundeswehr herausgegeben und ist Organ der Interessengemeinschaft Deutsche Luftwaffe e.V., der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V. sowie der Clausewitz-Gesellschaft e.V.“[15]. Als „Teil der sicherheitspolitischen community“, wie Varwick sich selbst bezeichnet, ist er verbandelt mit dem Militär und der Waffenindustrie, dessen Organ u.a. die ESUT ist. Er wird auch im Dezember 2015 an der „29. Sicherheitspolitischen und Wehrtechnischen Tagung“ teilnehmen, die vom Mittler Report Verlag, dem Herausgeber von ESUT, organisiert wird[16] und bei der Politik, Militär und Wissenschaft in Austausch treten. Gleichzeitig finanzieren dieselben Akteure, in deren Community sich Varwick selbst verortet, einen Teil seiner Forschung, aber dazu weiter unten mehr.

Um den „sicherheitspolitischen“ Diskurs in Deutschland zu stärken, hat Varwick grundlegende Einführungswerke zur Nato (2008) und Sicherheitspolitik (2009) herausgebracht[17]. Er nimmt dadurch die von Gramsci beschriebene Funktion eines Organischen Intellektuellen ein, der gesellschaftliche Prozesse organisiert, also den „sicherheitspolitischen“ Diskurs vorantreibt und dadurch um Hegemonie wirbt.

Bestens vernetzt

Dass Varwick Teil der „sicherheitspolitischen community“ ist, wird auch an seinen Mitgliedschaften deutlich. Er ist Mitglied des „Arbeitskreises Sozialwissenschaften und Militär“[18], welcher am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam angesiedelt ist. Der Arbeitskreis versteht sich als „Informations- und Kommunikationsforum“ für militärsoziologische Fragestellungen. Dabei unterstützt er auch die Einbringung der erworbenen Erkenntnisse in Forschung und Lehre. Der Arbeitskreis wurde im Oktober 1971 gegründet. Zum Gründungstag eingeladen hatte der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Fritz-Rudolf Schulz, der bis 1945 für Hitler und die Wehrmacht gekämpft hat, dafür mehrere Auszeichnungen bekam und nach Kriegsende in US-amerikanische Gefangenschaft gelangte. Ab 1953 saß Schulz für die FDP im Rheinland-Pfälzischen Landtag. An dem Gründungstreffen des Arbeitskreises nahmen Militärsoziologen, Politikwissenschaftler, Psychologen und Offiziere teil.

Viele Mitglieder des Arbeitskreises stehen der FDP und der Friedrich-Naumann-Stiftung nahe. Auch Varwick war Promotionsstipendiat bei der Stiftung und bindet diese in seine Lehre ein. Unter anderem organisierte Varwick eine (Pflicht-)Vorlesung für Politikstudierende mit der Naumann-Stiftung. Außerdem bietet er zum wiederholten Mal ein Seminar an, bei dem man ein Wochenende bei der Stiftung verbringt und sich mit „Experten“ über „sicherheitspolitische“ Themen unterhalten kann. Das Seminar hat einen exklusiven Charakter, da die Teilnahmegebühren 65 Euro betragen und die Fahrtkosten von Halle nach Gummersbach und wieder zurück dazu kommen.

Die Jahrestagung des „Arbeitskreises Sozialwissenschaften und Militär“ fand 2013 unter dem Titel „Eine Bundeswehr – viele Baustellen: Von der kalten zur heißen Organisation“ statt. Auf dem Treffen wurde dann unter anderem über „die öffentliche Wahrnehmung der Bundeswehr“ gesprochen oder auch über die „soldatische Suche nach Einsatzmöglichkeiten in den Medien“[19].

Zudem ist Varwick Mitglied der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“[20] (DGAP), die sich als Netzwerk und Think Tank für internationale Politik sowie für Außen- und Sicherheitspolitik versteht. Der Verein wurde 1955 in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen „Council on Foreign Relations“ (CFR) und dem britischen Think Tank „Chatham House“ gegründet. Zentrale Projekte des „Chatham House“ werden von der Rockefeller-Stiftung, der Konrad Adenauer Stiftung, der NATO und der EU finanziert. Der DGAP gehören heute über 2500 Mitglieder an, unter denen sich führende Persönlichkeiten aus dem Bank- und Finanzwesen, der Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft befinden.

Die DGAP gilt seit ihrer Gründung 1955 als einer der wichtigsten Zusammenschlüsse des deutschen außen- und sicherheitspolitischen Establishments. Ziel der Institution ist es, die außenpolitische Meinungsbildung auf allen Ebenen aktiv zu begleiten. Ein zentraler Bestandteil der Arbeit umfasst daher Politikberatung. Die DGAP erhält unter anderem Zuwendungen vom Auswärtigen Amt, der Deutschen Bank und dem Rüstungskonzern Airbus (früher: EADS).

Communityfinanzierung

Varwicks Forschung[21] fügt sich in das bisher gezeichnete Bild ein und ist u.a. von einigen der  bereits angeführten Akteure finanziert worden. Das Projekt „Die Beziehungen zwischen NATO und EU“ bearbeitete Varwick zum Beispiel in seiner Zeit an der Universität Kiel mit finanzieller Unterstützung der Public Diplomacy Division der NATO. Hier wurde Varwick also direkt vom Militär finanziert. Durch Mittel des Berliner Forums Zukunft (BFZ), welches Teil der DGAP ist, wurde das Projekt „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa: Deutsche Optionen für eine Revitalisierung“ (Oktober 2011 bis März 2012) finanziert.

Das BFZ wurde 1999 primär gegründet, um den strategischen Dialog im Bereich Luft- und Raumfahrtpolitik zu fördern, das ist ein Hort der Rüstungsindustrie. In den folgenden Jahren wurden die Arbeitsschwerpunkte des BFZ auf die Gebiete der Sicherheits- und Verteidigungs- sowie der Militär- und Technologiepolitik ausgeweitet, wie es in der Selbstbeschreibung heißt[22]. Auch diese Forschungsvorhaben Varwicks sind dementsprechend indirekt von der Rüstungsindustrie finanziert worden.

Im Jahr 2007 sind gleich zwei Forschungsprojekte unter anderem mit Geldern des Bundesministeriums für Verteidigung bezahlt worden: „Optimierung ressortübergreifender Zusammenarbeit“ (August 2007 bis Dezember  2007) und „Militärische Aspekte der ESVP im Lichte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“ (Januar bis Juni 2007).

Verantwortungsmilitarist

Ein zentraler Bestandteil von Varwicks Tätigkeiten umfasst die Politikberatung. Unter anderem war er Sachverständiger in der Bundestagskommission „Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Bei der Expertenanhörung im Deutschen Bundestag im September 2014 legte Varwick deutlich dar, was seiner Meinung nach politisch geschehen müsse. Es gelte, dass Deutschland sich an der Gestaltung der internationalen Ordnung aktiver, also schlussendlich auch militärisch beteilige, um zu einer „Kultur des Engagements“ zu kommen, da Deutschland mehr „Verantwortung“ übernehmen müsse.

Varwick beklagte während der Anhörung einen fehlenden strategischen Konsens der Politik in Deutschland und orientiert sich in seinen Aussagen nahezu eins zu eins an den Vorgaben, wie sie von Gauck und im Abschlussbericht des Projekts „Neue Macht – Neue Verantwortung“ formuliert wurden: „Deutschland hat eine ökonomische und politische Schlüsselrolle sowohl in der NATO als auch in der EU, nimmt diese aber im sicherheitspolitischen Bereich aus verschiedenen Gründen nicht immer hinreichend wahr. Ziel muss sein, dass Deutschland nach einem gründlichen politischen Abwägungsprozess grundsätzlich im vollen Spektrum an allen denkbaren Einsätzen von NATO und EU teilnehmen kann und sein sicherheitspolitisches Instrumentarium verfassungskonform, verlässlich, bündniskonform und solidarisch zur Anwendung bringen kann. […] Die ‚Kultur der Zurückhaltung‘ (die in sicherheitspolitischer Hinsicht oftmals Kompensationen durch unsere Bündnispartner bedingte und für die die Partner Deutschlands immer weniger Verständnis aufbringen) und die ‚Kultur der Verantwortung‘ sind in der deutschen Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahren nicht immer richtig austariert worden.“[23] Demokratische Legitimation und Bündnissolidarität müssten austariert werden. Daher schlägt Varwick eine Schwächung der Parlamentsbeteiligungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr vor, die in verschiedenen Ausnahmeregelungen und Rückholrechten bestehen soll. Deutschland solle seine Rolle als „Zentralmacht Europas“ offensiv vertreten[24]. Faktisch hat sich Varwick also für den Abbau demokratischer Mitbestimmungsrechte des Parlaments mit Vorschlägen ausgesprochen, die später teils auch von der sogenannten Rühe-Kommission aufgegriffen wurden. Gegenwärtig ist Varwick an der Erstellung des „Weißbuchs zur Sicherheit und zur Zukunft der Bundeswehr“ beteiligt[25], welches 2016 erscheint und mit dem die Strategien und Ziele der „Sicherheitspolitik“ der Bundesregierung formuliert werden.

Antimilitaristischer Widerstand an der Hochschule

Seit dem Sommer 2014 hat zumindest der Sozialistisch-Demokratische-Studierendenverband (SDS) Varwick Paroli geboten[26]. Durch mehrere offene Briefe an die Universität und den Lehrstuhl, an dem Varwick lehrt, konnte zumindest auf die Militarisierung des Lehrstuhls aufmerksam gemacht werden. Die Argumentation des SDS umfasste manche der in diesem Text aufgeworfenen Argumente. Jedoch kratzte die Kritik nur an der Oberfläche, wodurch Varwick genügend Angriffsfläche geboten wurde. Dennoch ist es den Aktivisten des SDS zu verdanken, dass das Feld der Hochschule und der Kampf um Hegemonie nicht kritiklos Varwick überlassen wurde. Die erste Schlussfolgerung eines erfolgreichen Antimilitarismus an der Hochschule muss daher eine fundierte Analyse sein, die es ermöglicht, den Gegner politisch effektiv anzugreifen. Auf der anderen Seite gab es an der Uni keinerlei wahrnehmbare Kritik oder Gegenwehr der ProfessorInnen und Dozierenden gegenüber Varwick. Im Gegenteil: Der akademische Empfang seiner KollegInnen in der Fakultät war überaus freundlich, wie Varwick in seiner Antrittsvorlesung selbst sagte – und das habe er durchaus anders erlebt auf seinen verschiedenen Stationen in der Wissenschaft. Es gilt also in Zukunft auch Dozierende der Universität zu überzeugen, sich zu engagieren und gegen die zunehmende Militarisierung der Hochschule einzutreten.

Der Arbeitskreis Zivilklausel der Martin-Luther-Universität besteht überwiegend aus SDS-Mitgliedern. Jedoch sind inzwischen auch einzelne VertreterInnen der GEW und der Dozierenden dabei. Der Kreis der Aktiven weitet sich also aus. Um diese Entwicklung fortzusetzen, hat der AK Zivilklausel für das Wintersemester eine Veranstaltungsreihe zur Zivilklausel, Militarisierung, Imperialismus und Neuer deutscher Außenpolitik organisiert[27].

Es wird darum gehen, auch durch Aktionen für antimilitaristische Positionen zu werben, um perspektivisch auf eine Urabstimmung über eine Zivilklausel zu orientieren, also eine Selbstverpflichtung der Hochschule, die Forschung und Lehre zivilen Zwecken zu verpflichten. Auch ohne Zivilklausel setzt sich die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in ihrem Leitbild „für die friedliche Nutzung ihrer Forschungsergebnisse“ ein[28]. Wie das mit der Berufung Varwicks vereinbar ist, steht auf einem anderen Blatt.

Anmerkungen 

[1] Paech, Norman: 2006. Die Rehabilitierung des Krieges. In: Hegemoniale Weltpolitik und die Krise des Staates. Peter Lang Verlag. Frankfurt am Main.

[2] Wagner, Jürgen: 2015. Deutschlands (neue) Großmachtambitionen – Von der „Kultur (militärischer) Zurückhaltung“ zur „Kultur der Kriegsfähigkeit“. IMI-Studie. Nr. 2. 2015. Abrufbar unter: http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2_2015wagner_fett.pdf [08.09.2015]

[3]  http://www.swp-berlin.org/de/projekte/neue-macht-neue-verantwortung/das-projekt.html [08.09.2015]

[4] Lucke, Albrecht von: Der nützliche Herr Gauck, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2014, S. 5-8, S. 6.

[5] Pfeifer, Hanna/Spandler, Kilian: The Responsibility to be Responsible, in: Wissenschaft & Frieden 4/2014, S. 36-39.

[6] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-12/umfrage-deutsche-ablehnung-internationale-bundeswehr-einsaetze [08.09.2015]

[7] Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch, SWP/GMF, September 2013, S. 8.

[8] Die meisten Informationen sind auf der Homepage Varwicks nachzulesen. Er pflegt einen sehr offenen Umgang mit seinen Forschungen, die er komplett veröffentlicht. Alles einsehbar unter: http://www.johannes-varwick.de/ [12.09.2015]

[9] Nachhörbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=yjR43jFuv58 [12.09.2015]

[10] Nachzulesen unter: http://wcms.uzi.uni-halle.de/download.php?down=34775&elem=2793946 [12.09.2015]

[11] Nachzulesen unter: http://www.linksfraktion.de/themen/auslandseinsaetze-bundeswehr/ [12.09.2015]

[12] Nachzulesen unter: http://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens [12.09.2015]

[13] http://www.esut.de/fileadmin/user_upload/ESuT/leseprobe/2014/EST_6_2014.pdf [6.10.2015]

[14] http://www.esut.de/esut/profil/ [6.10.2015]

[15] http://www.esut.de/esut/profil/ [6.10.2015]

[16] http://www.esut.de/fileadmin/user_upload/daten/produkte/tagungen/Sipo-Tagung_2015_Einladung.pdf [6.10.2015]

[17] http://www.johannes-varwick.de/rauf/wissenschaftliche-veroffentlichungen-varwick-marz-2014.pdf [6.10.2015]

[18] http://www.mgfa-potsdam.de/html/aktuelles/arbeitskreismilitaersozialwissenschaften?PHPSESSID=92bb8 [13.09.2015]

[19] http://www.mgfa-potsdam.de/html/aktuelles/arbeitskreismilitaersozialwissenschaften?PHPSESSID=92bb8 [7.10.2015]

[20] https://dgap.org/de/think-tank/ueber-uns [12.09.2015]

[21] Alle Forschungsvorhaben sind hier aufgelistet: http://www.johannes-varwick.de/rauf/wissenschaftliche-veroffentlichungen-varwick-marz-2014.pdf und http://varwick.politik.uni-halle.de/forschung/forschungsprojekte/ [12.09.2015]

[22] https://dgap.org/de/think-tank/program/bfz [12.09.2015]

[23] https://www.bundestag.de/blob/296760/3f17b8f159c1b4fec836c6646674d762/18-26-016b_statement-varwick-pdf-data.pdf [10.09.2015]

[24] https://www.bundestag.de/blob/296760/3f17b8f159c1b4fec836c6646674d762/18-26-016b_statement-varwick-pdf-data.pdf [10.09.2015]

[25] Nachzulesen unter: http://www.johannes-varwick.de/?page_id=42 [12.09.2015]

[26] Die Kontroverse kann hier nachgelesen werden: http://sdsmlu.blogspot.de/2014/07/offener-brief-gegen-die-militarisierung.html [12.09.2015] http://wcms.uzi.uni-halle.de/download.php?down=34775&elem=2793946 [12.09.2015] http://sdsmlu.blogspot.de/2014/08/offener-brief-ii.html [12.09.2015] http://sdsmlu.blogspot.de/2015/07/ein-unappetitlicher-professor.html [12.09.2015]

[27] Terminankündigungen sind hier zu finden: http://www.stura.uni-halle.de/blog/ak-zivilklausel-programm-ws-201516/  [13.10.2015]

[28] http://hastuzeit.de/2012/fur-den-frieden-forschen/ [7.10.2015]