Liste häufig gestellter Fragen

von Kai Ehlers,  veröffentlicht am 16.4.2014 von AG Friedensforschung

Seit Monaten füllt die Krise um die Ukraine die Nachrichten. Täglich wird die Öffentlichkeit mit neuen Wahrheiten konfrontiert, die einen Tag später schon wieder überholt sind oder sich gar als gefälscht erweisen - wie kürzlich die NATO-Fotos vom angeblichen Aufmarsch russischer Truppen an der Ukrainischen Grenze. Der von den Mainstream-Medien verbreitete Informationsnebel wird immer dichter und giftiger, die Reihe offener Fragen immer länger und drängender. Es wird zu einer Frage des geistigen Selbstschutzes, sich nicht weiter verwirren zu lassen. Die folgende Liste von neun Fragen und Antworten erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Sie versteht sich nur als kleiner Wegweiser durch den Nebel der Desinformation, der in dem gegenwärtigen Informationskrieg verbreitet wird.
Frage eins: Warum gerade die Ukraine? Warum nicht Ungarn, warum nicht die Türkei, warum nicht Syrien, Mali, Thailand oder andere Länder? Was ist an der Krise der Ukraine so besonders, dass sie derart in den Vordergrund tritt?

Weil in der Ukraine die sozialen, nationalen und geopolitischen Transformationslinien der Gegenwart auf einem zentralen Problemfeld zusammenlaufen.

  • Sozial geht es um den Übergang aus dem realen Sozialismus in eine neue wirtschaftliche, soziale und staatliche Realität.

  • National geht es um den Konflikt zwischen nachholender Nationenbildung und in die Zukunft weisender föderaler Regionalisierung.

  • Geopolitisch geht es um den Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Ordnung.

Man lese für das grundlegende Verständnis dieser Situation die Bücher des US-Ideologen Zbigniew Brzezinski, der die Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion als „Filetstück“ bezeichnet, welches derjenige sich einverleiben müsse, der die Herrschaft über Russland, von da aus über Eurasien und auf diesem Wege über den Globus erreichen – oder wie Brzezinski es neuerdings formuliert – behalten und verteidigen wolle. Hintergrund für die aktuelle Wende Brzezinskis ist der von ihm konstatierte Niedergang der US-amerikanischen Vormacht in einer Welt des von ihm als Gefahr für den Weltfrieden eingestuften „political awakening of people“ und des Auftauchens neuer globaler „player“ in Asien, China, Indien und andere. Mit dazu gehören auch Russland und Brasilien – die B.R.I.C-Staaten.[1]

In der „Maidan-Revolution“ fließen diese drei Elemente in widersprüchlicher, aber die bestehenden Verhältnisse grundsätzlich herausfordernder Weise zusammen.

Frage zwei: Ist der Maidan eine fortschrittliche demokratische Bewegung?

Antwort: Ja – und nein. Fortschrittlich ist die Maidan-Bewegung ganz sicher in dem Sinne, dass sie den sozialen Protest gegen die Ergebnisse der Rückverwandlung der sowjet-sozialistischen Sozialordnung in eine privatkapitalistische oligarchische Willkürherrschaft in radikaler Weise zum Ausdruck gebracht und gebündelt hat – und vermutlich auch weiterhin bündeln wird, wenn die neue Regierung die neo-liberale Auflösung sozialistischer Strukturen in Zukunft noch beschleunigen will. Damit stehen die Maidan-Proteste in einer Reihe mit ähnlichen Unruhen an vielen anderen Orten der Welt, die sich gegen Ausbeutung und Nivellierung im Zuge der heutigen neo-liberalen Globalisierung wenden. Zugleich haben sich die Proteste jedoch im Schatten des anti-sowjetischen Traumas entwickelt, das aus der siebzigjährigen sowjetischen Geschichte zurückgeblieben ist. Dieses Trauma verbindet sich in weiten Teilen der Ukraine, vor allem in den westlichen zudem noch mit tiefen anti-russischen Ressentiments. Diese Befindlichkeiten haben sich in der Entwicklung des Maidan als anti-kommunistische, nationalistische, antidemokratische Entwicklung niedergeschlagen, deren Vertreter den sozialen und demokratischen Protest auf eine „nationale Revolution“ einengen wollen.

Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Seiten des Protestes findet im Klima eines allgemeinen Konservatismus der ukrainischen Bevölkerung statt. Angesichts der Schwäche der nach-sowjetischen Linken gibt das den Rechten die Chance, die Proteste auf ihre Bahnen zu lenken.

Frage drei: Darf man den Maidan faschistisch und die Übergangs-Regierung eine faschistische Putsch-Regierung nennen?

Nein, das darf man nicht. Der Begriff „Faschismus“ ist heute, insbesondere in den Ländern des ehemaligen sowjetischen Raums auf das Niveau eines allgemeinen Schimpfwortes abgesunken. Alles was irgendwie als nicht „demokratisch“, ungeachtet dessen, was darunter verstanden wird, oder einfach als sozial eklig oder widerwärtig gekennzeichnet werden soll und gegen das man Gefühle des Abscheus hervorrufen möchte, wird in dieser Rhetorik „faschistisch“. Auf diesem Niveau sind keine politische Auseinandersetzung und auch kein politischer Dialog zu führen.

Die Begriffe „Faschismus“, „Nationalsozialismus“, „Putsch“, „Staatsstreich“ beschreiben jeweils andere, spezifische politische Vorgänge. Auch wenn sie, trotz aller wissenschaftlichen Bemühungen, nicht immer präzise voneinander abgrenzbar sind, ist es doch sinnvoll dies zu beachten, wenn es darum geht, sich miteinander verständigen zu wollen. In diesem Sinne ist allen zuzustimmen, die eine differenzierte Benutzung dieser Begriffe einklagen.

Allerdings entsteht gerade aus der Forderung nach Differenzierung auch die Verpflichtung genau hinzuschauen, was tatsächlich geschieht und jeder Verharmlosung und Vertuschung rechter Tendenzen entgegen zu treten. Und dies sind die Tatsachen: Die Einengung der Maidan Proteste seitens der nationalistischen Partei „Swoboda“ und des mit ihr verbundenen militanten „rechten Sektors“ auf die gewaltsam durchzusetzende “nationale Revolution“. Die Usurpation der Maidan-Proteste durch gewaltbereite Militante bis hin zum Umsturz der gewählten Regierung unter Androhung von Waffengewalt. Immer offener tritt sogar als Frage hervor, wer die Toten auf dem Höhepunkt der Maidan-Eskalationen zu verantworten hat. Der gestürzte Präsident Janukowytsch und seine Polizeieinheiten „Berkut“ werden von der Übergangsregierung dafür beschuldigt; in der Öffentlichkeit tauchen jedoch immer mehr Indizien dafür auf, dass dies eine einseitige – zumindest – unbewiesene Schuldzuweisung ist. Tatsache ist weiter, dass mehr als eine Handvoll der National-Revolutionäre nach dem Umsturz in der Übergangsregierung an wichtigen Schalthebeln der Macht landeten. Tatsache ist, dass diese Regierung, kaum an der Macht, eine Reihe von Maßnahmen vornahm, die vollkommen auf der Linie einer diskriminierenden Zwangs-„Ukrainisierung“ lagen – die Kündigung des Sprachengesetzes, die Aufhebung des Verbots faschistischer Organisationen, die Nicht-Entwaffnung der Waffenträger des Maidan, stattdessen deren Legalisierung durch die Ausrufung einer Nationalgarde usw.

Real ist die Übergangsregierung der Ukraine heute eine rechtsliberale Koalition, die sich aus Parteigängern diverser oligarchischer Strukturen und der „Maidan-Rechten“ zusammensetzt. Linke oder demokratische Maidan-Vertreter/innen haben es nicht geschafft, in die Übergangsregierung aufgenommen zu werden. Wie weit es den liberalen und oligarchischen Kräften gelingt, sich von dem Druck der „gemäßigt“ rechten Kräfte von „Swoboda“ oder wenigstens der mit ihr verbundenen Radikalen des „rechten Sektors“ zu befreien, ist eine offene Frage. Zurzeit sieht es eher zu aus, als ob die Rechten, die u.a. die Organe innerer Sicherheit und Justiz in ihren Händen halten, das innenpolitische Geschehen der Ukraine und damit auch ihre Außenwirkung bestimmen, indem sie mit Gewalt gegen die Forderungen nach regionaler Autonomie vorgehen, die im Osten vorgebracht werden.

Frage vier: Ist die Ukraine auf dem Weg der nationalen Selbstbestimmung, amerikanisch gesprochen, auf dem Weg einer nachholenden „Nation Building“?

Die Ukraine befindet sich in widersprüchlicher Gefangenschaft zwischen Eurasischer und Europäischer Zollunion, Eurasischer und Europäischer Union, kurz zwischen EU&EU, noch weiter gefasst, zwischen der vom westlichen Kapital geplanten atlantischen Freihandelszone (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP), die Russland ausschließt und der pazifischen Freihandelszone (Trans Pacific Partnership, TPP), die China ausschließt. Eurasien würde so in die Zange genommen, wenn diese Projekte verwirklicht würden. Diese Konkurrenzsituation durchzieht die Ukraine als unlösbarer innerer Konflikt, solange er als Entweder-Oder-Alternative behandelt wird. Das war der Auslöser für den jetzigen Umsturz.

Der Konflikt ist allerdings nicht neu: Die Ukraine schaukelt Zeit ihres Bestehens in dieser halbstaatlichen, anarchischen Unentschiedenheit. Die wuchernde Struktur einer oligarchischen Gesellschaft, in der wenige Reiche die staatlichen Organe ebenso wie die Mehrheit der Bevölkerung über Bestechung ihrem Privatinteresse unterordnen, ist aktueller Ausdruck dieser Tatsache. Versuche ihrer zentralstaatlichen Einigung haben dieses Problem nicht lösen können, sondern eher verschärft.

Auch die gegenwärtige Übergangsregierung der Ukraine ist keine Lösung, sondern selbst Ausdruck dieses Problems, insofern sie nicht auf demokratischem Weg, sondern in einer Mischung aus oligarchischer Einflussnahme und bewaffneter Gewalt der Straße, genauer der Gewalt der Maidan-Rechten gebildet wurde und allein durch diese Gewalt selbst legitimiert ist. Die Versuche, einen Übergang von der gewählten Regierung Janukowytschs zu einer nachfolgenden Regierung verfassungsgemäß, also parlamentarisch per Impeachment zu vermitteln, scheiterten am „Nein“ des bewaffneten Arms des Maidan.

Bewaffnete Kräfte – das waren vor allem die rechts-nationalistischen militanten Kräfte aus dem Westen der Ukraine. Sie rückten nach dem von ihnen erzwungenen Sturz der Janukowytsch-Regierung mit entsprechendem Personal in die Übergangsregierung ein, während der Osten weitgehend draußen vor blieb. Die leitenden Figuren in den östlichen Gouvernements wurden darüber hinaus von der Übergangsregierung durch Leute ausgetauscht, die der Umsturz-Regierung nahe stehen. Zugleich bekämpfte diese Regierung Forderungen nach regionaler Autonomie und Föderalisierung als russische Propaganda – und tut dies noch immer, inzwischen von ihr als „antiterroristischer“ Einsatz deklariert. Wenn diese Situation von der Übergangsregierung weiter aufrechterhalten wird, also die Forderungen der Menschen im Osten und Süden nach mehr regionaler Autonomie unterdrückt, statt aufgegriffen werden, ist zu erwarten, dass die für den 25. Mai angesetzte Wahl eines neuen Präsidenten im Osten und im Süden des Landes nicht anerkannt oder gar boykottiert wird. Die zukünftige Regierung wird sich auf diese Weise nicht nur neuerlichen sozialen Protesten ausgesetzt sehen, wenn sie unter Anleitung des IWF, der EU und der USA die von ihnen geforderten Reformen durchführt. Sie wird auch einen weiteren Legitimitätsverlust übergeben bekommen – wenn die jetzige Übergangsregierung nicht vorher die Kurve kriegt, eine Autonomie der Regionen im Rahmen eines föderalen Bundesstaates zuzulassen und aktiv auf den Weg zu bringen, statt mit repressiven Maßnahmen die zentralistische Nationalstaatsbildung im Sinne der „nationalen Revolution“ der Rechten zu forcieren.

Frage fünf: Wurde die Krim völkerrechtswidrig annektiert?

Die Krim wurde nicht annektiert – wenn damit gesagt werden soll, dass Russland sich die Krim gewaltsam einverleibt hätte. Tatsache ist, dass das in der Frage der Gewichtung von Staatenrecht und Selbstbestimmungsrecht nicht eindeutige Völkerrecht in einer durch die Umsturzsituation in der Ukraine entstandenen rechtsfreien Übergangssituation von Russland einseitig zugunsten der Selbstbestimmung ausgelegt und im Eilverfahren benutzt wurde. Ob tatsächlich Gefahr für die russisch sprechende Bevölkerung der Krim bestand oder nicht, ob die aktuelle Situation nur genutzt wurde, um langfristig gehegte Absichten, die Krim mit dem Hafen Sewastopol wieder an Russland zu binden, nun spontan umzusetzen, ob vielleicht auch einem Übergriff der NATO auf Sewastopol zuvorgekommen werden sollte, muss dahin gestellt bleiben. So oder so ist der Anschluss der Krim ein Signal der russischen Führung an die Adresse der EU/US-Atlantiker ihre Expansion nach Osten einzustellen. Das ist ein Schritt Russlands aus der langjährigen Defensive nach Auflösung der Sowjetunion zur offensiven Selbstbehauptung. Dabei wird es durch die an seiner Seite stehenden B.R.I.C.-Staaten unterstützt. Und dazu gehören selbstverständlich auch die seit 2008 unternommenen Schritte zur Entwicklung der Eurasischen Union. Das weitere Vordringen von EU/US/NATO wurde fürs Erste gestoppt. Ob der Nutzen dieses Schrittes langfristig bei Russland liegt, muss sich noch zeigen; auch in der russischen Föderation leben Völker, die immer wieder nach Selbstbestimmung verlangen.

Frage sechs: Will „Putin“ nach der Krim auch weitere Teile der Ost- und Süd-Ukraine annektieren? Anders gefragt, wer könnte Nutznießer einer Spaltung der Ukraine sein?

Als pure Propaganda zu bewerten ist die Behauptung, Russland habe Interesse daran, weitere Teile der Ukraine zu annektieren, insofern Russland bei jedem Versuch einer gewaltsamen Annexion von Teilen der Ukraine mit militantem Widerstand und sogar Terror seitens der radikalenukrainischen Nationalisten zu rechnen hätte. Eine Annexion würde bedeuten, den unruhigen Kaukasus um das Gebiet einer aufständischen Ukraine zu erweitern. Es liegt auf der Hand, dass Russland dies nicht wollen kann. Eine solche Aktion, die Russland unbedingt schwächen müsste, könnte allein den Gegnern Russlands nützen. Vorteilhaft für Russland wäre vielmehr eine Föderalisierung der Ukraine, die zu größerer Unabhängigkeit der Regionen und damit Spielräumen in ihrer Beziehung zu Russland führen könnte, so dass die Ukraine in die Entstehung der Eurasischen Union einbezogen werden könnte. Nicht akzeptabel ist für Russland aber ebenso eine Russland ausschließende Eingliederung der Ukraine in die Einflusszone von Europäischer Union, NATO und TTIP

Frage sieben: Welchen Sinn macht die Kampagne gegen Wladimir Putin?

Russland ist in der aktuellen geostrategischen Perspektive der USA, wie sie Brzezinski skizziert und wie sie kürzlich vom US-Außenminister Kerry auf der Münchner Sicherheitskonferenz unter dem Stichwort der Notwendigkeit einer „Renaissance des atlantischen Bündnisses“ vorgetragen wurde, der zentrale Gegner, den es zu schwächen gilt, um ihn als Juniorpartner in ein zu erneuerndes atlantisches Bündnis gegen die Asiaten und den Rest der Welt einbinden zu können.

Wer Russland in dieser Weise willfährig machen will, muss aber dessen traditionelle imperiale Autarkie untergraben, an der westliche Eroberer immer wieder gescheitert sind – Gustav Adolf, Napoleon, Hitler, um nur die letzten zu nennen. Brzezinski schlägt vor, Russland dafür stärker als bisher in die westliche Konsum- und Wertewelt einzubinden. Das bedeutet im Kern nichts anderes, als Russland in Abhängigkeit zu bringen. Zugleich gehe es darum, die Ukraine, als einen wesentlichen Teil bisheriger Stärke Russlands aus dessen Einflussbereich herauszubrechen, um so eine imperiale Erneuerung Russlands auszuschließen. Ein so gezähmtes Russland müsse niemand mehr fürchten.

Möglich ist eine solche Strategie aber nur ohne Putin, insofern Putin für ein wieder erstarkendes Russland steht, das seinen historischen Platz als Integrationsknoten Eurasiens wieder einzunehmen sich anschickt. Hier haben alle Dämonisierungen Putins als Hitler, wahlweise auch Stalins ungeachtet der Realität ihre Wurzel.

Erstaunlich ist, dass der europäische, insbesondere der deutsche politische und mediale Mainstream auf dieser Propagandawelle mitschwimmt, obwohl amerikanische und europäische Interessen in Bezug auf Russland ganz offensichtlich nicht identisch sind: Die Europäer, besonders die Deutschen brauchen ein starkes Russland zum Überleben. Die USA glauben mit einem schwachen Russland besser leben zu können, mehr noch, am besten mit einem Russland, das mit der Europäischen Union in einem Konflikt liegt, der beide soweit schwächt, dass sie willige Partner abgeben. Kanzlerin Merkels Spagat zwischen Sanktionsdrohungen im Geiste Obamas und Angeboten zum Dialog im Stil östlicher Partnerschaften spricht dazu Bände. Auf dem Feld der Konkurrenz zwischen den USA und EU/Deutschland sind noch einige Überraschungen zu erwarten.

Frage acht: Kann und muss dem Völkerrecht wieder Geltung verschafft werden?

Das Völkerrecht erwuchs – wie alle Rechtsnormen – aus der Regelung konkreter Beziehungen. Es entstand als zwischenstaatliche Vereinbarungen zwischen den in den Kolonialismus aufbrechenden Staaten Mitteleuropas nach dem 30jährigen Krieg. Westfälischer Friede. Es wurde erweitert über die Regelung der Bildung unabhängiger Staaten in der Phase der Entkolonialisierung. Nachkriegsordnung 1918. Heute muss es der Neuordnung der globalen Staatenbeziehungen beim Übergang von der unipolaren zur multipolaren Welt gerecht werden.

Was zunächst nur rechtliche Regelungen zwischen Staaten betraf, entwickelte sich nach dem 1. Weltkrieg zu einem Regelwerk, das auch das Recht der Völker auf Selbstbestimmung in sich aufnahm. In der politischen Realität hat sich diese doppelte Regelung inzwischen als beliebig dehnbar erwiesen. Unter den Bedingungen der voranschreitenden Emanzipation des Individuums in unserer heutigen Welt kann und muss ein drittes Element hinzutreten, an dem sich die beiden, polar zueinander stehenden Elemente des bisherigen Völkerrechtes messen lassen – die Dimension des Menschenrechts.

In aufeinander bezogener Wechselwirkung dieser drei Elemente – Beziehung der Staaten zueinander und zu den Völkern, Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie drittens Menschenrecht – wird zukünftiges Völkerrecht sich entwickeln müssen. Die Entwicklung eines solchen Regelwerkes fordert eine multipolare Organisation der Völker, Regionen und Staaten statt einer unipolaren Ordnung unter der Hegemonie eines einzelnen „Weltpolizisten“.

Frage neun: Ist die Föderalisierung der Ukraine ein möglicher Ausweg oder ein Abrutschen in die Spaltung?

Die Vielgestalt der Ukraine – ethnisch, sprachlich, religiös, wirtschaftlich, geografisch und seiner aktuellen Lage zwischen Eu&EU entsprechend – fordert eine pragmatische, kooperative, plurale Gliederung relativ eigenständiger Regionen in einem verlässlichen föderalen Verbund geradezu heraus. Eine föderale Struktur kann fruchtbar für die Ukraine werden, wenn sie von einer Kultur demokratischer Selbstbestimmung an der Basis der Bevölkerung getragen wird, die sich der Verantwortung für die Fragen der vernetzten Organisation des gemeinsamen Raumes (Gas, Wasser, Elektrizität, Schienen- und Straßennetze usw.) bewusst stellt.

Anders wird es aussehen, versteht sich, wenn die Föderalisierung auf einen Kampf gegen die Zwangs-Ukrainisierung und auf einen Anschluss an Russland verengt werden sollte. Ein solcher Weg kann nur in den Bürgerkrieg, im schlimmsten Falle in internationale kriegerische Verwicklungen führen, wenn Russland in diese Konflikte mit hinein gezogen würde.

Zur Spaltung kann es auch kommen, wenn die Regionalisierung in der bloßen Auflösung der Zentralgewalt käme. Eine solche Entwicklung müsste unweigerlich in konfliktgeladener Kleinststaaterei enden. Der Ukraine-Konflikt offenbart somit die Notwendigkeit, die schon längst am Horizont erschienene Perspektive einer multipolaren, föderalen und selbstbestimmten Ordnung des Zusammenlebens auf unserem Globus jetzt endlich anzunehmen. Die Ukraine selbst könnte in diesem Prozess das Studio sein, in dem dieses Konzert aufgenommen wird. Sanktionen des Westens gegenüber Russland, nicht anders als russische Reflexe darauf, sind jedenfalls das ungeeignetste Mittel, um den Herausforderungen gerecht zu werden, die durch die Ukrainische Kri se zutage treten. Darüber muss nicht lange räsoniert werden.

[1] Zbigniew Brzezinski,1. Die einzige Weltmacht, Fischer 14358, 1999 (englisch 1997); 2. Second Chance, Basic Books, englisch, 2007; 3. Strategic Vision, Basic Books, englisch, 2012

* Kai Ehlers, Hamburg, Osteuropa-Experte, Autor und Journalist, www.kai-ehlers.de