Beitrag aus "neues deutschland"   vom 29.03.2014:

Mit Georgien hatte Russland 2008 Krach, jetzt mit der Ukraine. Aus beiden Ländern kam keineswegs nur Gutes über Moskau. Stalin war Georgier, Leonid Breschnew wurde nach heutigen Staatsgrenzen in der Ukraine geboren. Aus der Ukraine kamen auch Woroschilow und Podgorny, als Vorsitzende des Obersten Sowjets beide Staatsoberhaupt. Bei Chruschtschow streiten sich die Gelehrten: Mal gilt er als Ukrainer, mal als Russe. Geboren wurde er in einem russischen Grenzdorf, arbeitete in der Ukraine und begann dort seine Parteikarriere, bevor er in die obersten Kreise nach Moskau rückte. Lässt man ihn als »halben Ukrainer« durchgehen, so kann man sagen: Die Staats- und Parteiführung im Kreml war die meiste Zeit georgisch und ukrainisch gelenkt, die wenigste Zeit in russischem Griff.


Das war früher nicht von Belang. Das Land hieß Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, seine Einwohner Sowjetbürger. Die westlichen Kreml-Interpreten hat das aus anderem Grund nie gekümmert: Sie nannten die Sowjetunion wie zu Zarenzeiten weiter Russland und ihre Führer Russen – natürlich: gefährliche Russen. Und jetzt, wo man in feinster Weise unterscheidet, hat ein echter Russe, Wladimir Putin, der Ukraine die Krim »entrissen«. Nationalismen sind eine vertrackte Angelegenheit.

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Hätte man vor Jahresende, als die Schlagzeilen sich noch mit anderem beschäftigten, eine Umfrage in Westeuropa gemacht, zu welchem Land die Krim gehört, 80 Prozent hätten wohl geantwortet: Russland. In den USA, wo geografische Kenntnisse ein sehr sparsam verteiltes Gut sind, wären es vermutlich 95 Prozent gewesen. Das ist einerseits unerheblich, andererseits nicht ganz fern von historischen Verläufen.

Vor Mitte des 18. Jahrhunderts herrschte das Osmanische Reich über die Krim, das existiert nicht mehr. Blickt man auf die letzten rund 250 Jahre, so sind die groben Züge: Die Krim gehörte vor der Oktoberrevolution 1917 fast 150 Jahre zu Russland, bekam dann den Status einer autonomen Volksrepublik in der Sowjetunion, wurde innerhalb derselben von Chruschtschow in die Sozialistische Sowjetrepublik Ukraine eingegliedert und 1991 von dieser in ihre Selbständigigkeit mitgenommen. Das wären demnach für das letzte Vierteljahrtausend rund 190 russische gegen rund 60 ukrainische Krim-Jahre.

Die jeweilige staatliche Zuordnung war mehr oder weniger erzwungen, aufrecht erhalten auch mit Vertreibung und Deportation (der Krimtataren während der Stalin-Zeit). Die »Rückkehr in den Heimathafen«, wie Putin die Rück- oder Neueingliederung der Krim nach Russland nennt, geschah mit machtpolitischem Nachdruck. Dennoch gab es ein Referendum, dessen Ergebnis nicht durch das Argument kleiner wird, nach dem Völkerrecht sei der Anspruch der ukrainischen Zentralgewalt mehr wert als das Votum der Krim-Bevölkerung.

Zur Vermeidung von Gewalt und Blutvergießen sind einverständige Unabhängigkeiten oder Wechsel staatlicher Zugehörigkeiten allemal anzustreben. Doch was ist mit dem »Recht auf Lostrennung«, wenn die Bevölkerung einer Region dies zu größter Mehrheit will, die Zentralgewalt aber nicht? Seitdem die früheren Kolonialmächte die Dekolonialisierung und die nationale Staatenbildung für beendet erklärt haben, nennen sie die verbliebenen Grenzen unantastbar. Diese Übereinkunft schützt – nicht immer, aber rechtstheoretisch – vor kriegerischen Überfällen und Landraub, ist jedoch im Kern der Versuch, die vorhandenen Zentralgewalten einzufrieren. Spätere Generationen mögen diesen Versuch als Irrtum ansehen, oder einer temporären Sichtweise zuordnen, so wie wir heute die Macht- und Grenzkonstellationen auf den Landkarten früherer Jahrhunderte betrachten.

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Eine Tatsache »übersieht« die westliche Begleitmusik zum Ukraine-Russland-Konflikt auf jeden Fall: Die Krim ist russischer als z. B. die kubanische Bucht von Guantanamo US-amerikanisch, das südiberische Gibraltar britisch oder Melilla und Ceuta in Nordafrika spanisch sind. Man könnte in einer längeren Liste auch über Nordirland sprechen, das nach der irischen Unabhängigkeit 1921 von Großbritannien einbehalten wurde. Solche Vergleiche sind in der hiesigen Politik nicht beliebt, sie sind ein Schlechte-Laune-Mittel für alle, die sich selbst als stets edel und Russland als das Reich des Bösen verkaufen wollen.

Noch weniger beliebt ist der Kosovo-Vergleich, obwohl er häufig sogar ein völkerrechtlich schwer wiegendes Delikt auslässt, das dem russischen Vorgehen auf der Krim nicht vorwerfbar ist: Kosovo wurde mit einem tödlichen Bombenüberfall der NATO aus dem restjugoslawischen Serbien separiert. Das macht das Gegenargument, es habe sich »ausdrücklich« um »eine Ausnahme« gehandelt (so der frühere Außenamts-Staatsminister Ludger Volmer), noch unverfrorener. Und mindestens unverfroren ist es auch, dass diejenigen, die diesen und andere Kriege und einzelne Überfälle mit Lügen legendiert haben – Scharping bei Kosovo, Bush und Blair bei Irak, nicht zu vergessen: die Verantwortlichen für den Luftangriff im afghanischen Kundus – bis heute als hochanständige Politiker und Militärs angesehen werden, denen gütige Nachsicht, aber keine Verurteilung zukomme. Putin jedoch wird als Ganove gehandelt, gegen den jeder Verdacht angesagt ist. Auch dieser: Er habe Moskauer Demonstranten »gegen die Staatspropaganda« als »Verräter« beschimpft – und folgend: »Mit dem Konstrukt des ›Volksfeinds‹ hatte Stalin seinen Terror gerechtfertigt.« (Leitkommentar von Friedrich Schmidt in der FAZ, 22. März)

Ein Völkerrechtsbruch legitimiert nicht einen anderen, natürlich. Aber wer einen solchen nur auf der anderen Seite in grellen Tönen beschreit und auf der eigenen verschweigt, bestreitet oder beschönigt, ist unglaubwürdig. Der grelle Ton: Er herrscht auch dort, wo er samtpfotig scheint. Kann die Krim »gerettet« werden, wurde tagelang gefragt. Nun sagen die klügeren Strategen: Man müsse sie »aufgeben«, doch »weitere Aggressionen« verhindern. Nur: Die Krim zählte nie zur westlichen Herrschaftszone, schon gar nicht durch freiwilligen Entscheid ihrer Einwohner. Es ist die Diebessprache von fremdem Eigentum, eine totalitäre Sprache, die vom russischen »Brandstifter« (»Spiegel«-Titel) über die – auch linke – Nachbeterei der russischen »Einverleibung« bis zum Zerrbild ukrainischer und westlicher »Deeskalation« gegen russische »Eskalation« reicht. Sie spielt mit einer teils fahrlässigen, teils absichtlichen Verwirrung der Gedanken.

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Um Verwirrung (statt Klärung) geht es auch in der Diskussion um die »neue Ukraine«. Mit den Ministern und höchsten Staatsbeamten der NPD-Partnerpartei Swoboda und den Kadern des bewaffneten »Rechten Sektors« wurden finstere Gesellen zu Bündnispartnern in der nun regierenden Koalition, und damit auch der Bundesregierung, der EU, der USA. Man wollte es mit Schweigen und Leugnung übergehen. Klaus Hillenbrand meinte in der »taz« gefügig, es handle sich um russische »Propaganda« und »manche gutgläubige Deutsche (fallen) auf diese Propaganda herein«.

Als die braunen Bande nicht mehr geleugnet werden konnten, gab es erstaunliche Argumente zur Verteidigung des Skandals: Die Demokraten in der Ukraine würden »ganz sicher auch damit fertig werden«, sagte die grüne Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt im Bundestag (13. März); sie hielt das Problem so jedenfalls für sich und ihre Partei für erledigt. Günther Jauch konterte in seiner ARD-Talkshow (23. März) mit einem Fakten-Einspieler: »Aber der viel größere Teil der Regierung ist nicht rechtsextrem.« Sehr tröstlich. Der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann rechtfertigte, es handle sich um »einige unästhetische Figuren, die mit einbezogen werden mussten, um die Maidan-Bewegung zu integrieren« (13. März). Und die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« (16. März) assistierte ähnlich: »Es ist unangenehm, dass Mitglieder rechtsnationaler Parteien in Kiew in der Regierung sitzen. Doch ohne sie hätte Janukowitsch nicht gestürzt werden können.«

Hoppla! War »die Maidan-Bewegung« doch stärker von Rechtsextremen geprägt, wenn sie nur durch deren Regierungsaufnahme »integriert« werden konnte? Ist ein Bund mit Rechtsextremen gerechtfertigt, wenn »die Demokraten« zu schwach sind, eine Regierung zu stürzen? Was wird uns hier erzählt? Gelinde gesagt: ein arger Stuss. Und deutlicher: eine auf der Gefahrenskala nach oben offene Ideologie, die nicht nur hinsichtlich der Ukraine beunruhigend ist. Spätestens nach den Mordfantasien der von Frau Merkel gehätschelten Oligarchin Julija Timoschenko (»Man muss die Kalaschnikow nehmen und alle Russen platt machen.«) ist unübersehbar, dass die losen Kanonen, die da mit westlicher Deckung in Stellung gebracht wurden, recht viele sind. Wir hören ein paar Distanzierungen, eine Umkehr sieht man nicht.

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Rückblende 2007, Putin vor der Münchener Sicherheitskonferenz: Russland würden »dauernd Lektionen in Sachen Demokratie erteilt. Diejenigen, die uns belehren, wollen aber aus irgendeinem Grunde nicht gerade lernen.« NATO und EU versuchten, sich an die Stelle der UNO zu setzen. Zu Bushs Plänen eines Raketenschilds in Polen und Tschechien, die Obama später zunächst verwarf, die US-Regierung nun aber weiter verfolgt: »Wer braucht diese neue Runde des Wettrüstens, die in diesem Fall unvermeidlich wäre?« Zu neuen Militärbasen der USA in Bulgarien und Rumänien: »Das bedeutet also, dass die NATO ihre Vortrupps an unsere Staatsgrenzen heranrückt.« Der Prozess der NATO-Erweiterung sei »ein ernsthafter provokativer Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens herabsetzt. Wir haben ein gutes Recht, offen zu fragen: Gegen wen ist diese Erweiterung gerichtet? Und was ist mit den Versicherungen geworden, die von westlichen Partnern nach der Auflösung des Warschauer Vertrages gegeben wurden?« Es würden neue Mauern in Europa errichtet, die »unseren gemeinsamen Kontinent trennen und zerschneiden. Werden denn wieder viele Jahre und Jahrzehnte sowie der Wechsel von mehreren Politikergenerationen erforderlich sein, um diese neuen Mauern abzutragen und zu demontieren?« Es lohnt sich, diese Rede neu zu lesen, sie war eine nachdrückliche Warnung, die Schroffheiten gegenüber Russland zu beenden (de.ria.ru/comments_interviews20070213/60672011.html).

Der Westen hat alles in den Wind geschlagen, hat nur Handel und Händel getrieben. Und ein Ziel weiter verfolgt: Das Schwarze Meer zu einer Art Binnengewässer der NATO zu machen und alles drumherum zum Jagdgebiet für westliche Konzerne.

Niemand will Krieg, wird betont. Doch zu viele stolpern besinnungslos über seine möglichen Vorfelder. Es weckt kein Vertrauen, wenn Deutschland mit Ursula von der Leyen eine Verteidigungsministerin hat, die zusammenzählen kann, was nicht zusammengehört. Zu Gast bei Günther Jauch wusste sie: »Die Krim ist ja nicht aus heiterem Himmel gekommen, wir haben ja auch Pussy Riot und anderes erlebt.« Erleichtert sein kann man nur darüber, dass die Grünen nicht mitregieren. Sonst würden wohl bald die ersten Truppen Deutschlands Sicherheit an der Krim verteidigen.