Von Reinhard Lauterbach , aus "junge Welt"  vom 28.02.2014

Die Schwarzmeerhalbinsel Krim – mit etwa 26000 Quadratkilometern und zwei Millionen Einwohnern ist sie etwas kleiner als das Bundesland Brandenburg – kam Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft. Zuvor hatten dort die osmanische Türkei und ein autonomes Chanat der Krimtataren geherrscht, das sich durch Sklavenraubzüge bis weit nach Polen hinein den Ruf eines »Schurkenstaates« der frühen Neuzeit erwarb. Nach der russischen Eroberung floh ein Großteil der tatarisch- und türkischstämmigen Bevölkerung in die Türkei oder wurde in andere Teile des russischen Reiches und des Balkans umgesiedelt.

Was aus russischer Sicht als Besiedlung der Krim mit Siedlern aus allen Teilen des Reiches, aber auch aus Deutschland, wahrgenommen wird, stellt sich aus Sicht der Tataren als ethnische Säuberung dar.

Nach der Oktoberrevolution 1917 herrschten auf der Krim im Wechsel Sowjets, Deutsche und »weiße« Truppen, bevor sich Ende 1920 die Sowjetmacht durchsetzte. Anschließend bekam die Krim den Status einer autonomen Republik im Rahmen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik RSFSR. Kurzzeitig war die tatarische Sprache im Zuge der Politik der »Einwurzelung« der Sowjetmacht gleichberechtigt; ab Ende der 1920er Jahre wurde diese kulturelle Autonomie jedoch zugunsten einer stärkeren Russifizierung rückgängig gemacht. Der latente Konflikt zwischen der tatarischen Bevölkerung und der russisch dominierten Sowjetmacht führte dazu, daß während der deutschen Besatzung ein größerer Teil der Krimtataren mit den Deutschen kollaborierte. Stalin ließ deshalb nach der Befreiung der Krim im Mai 1944 die Tataren nach Zentralasien umsiedeln. 1967 wurden sie zwar von dem pauschalen Vorwurf der Kollaboration rehabilitiert, es dauerte aber weitere 20 Jahre, bis sie aus ihren Verbannungsorten auf die Krim zurückkehren konnten.

Heute wird die Zahl der tatarischen Bevölkerung auf der Krim mit etwa 250000 angegeben, das sind etwa 12,5 Prozent der Bevölkerung. Ihre wirtschaftliche Lage ist durch Wohnungsmangel, Bildungsdefizite und Arbeitslosigkeit schlechter als die der übrigen Nationalitäten. 60 Prozent der Bewohner der Krim sind ethnische Russen, der Rest Ukrainer und andere Minderheiten.

Zur Ukraine gehört die Krim erst seit 1954. Damals übertrug KPdSU-Generalsekretär Nikita Chru­schtschow, ein gebürtiger Ukrainer, die Halbinsel von der russischen an die ukrainische Sowjetrepublik. Anlaß des quasifeudalen Geschenks war das 300. Jubiläum des Vertrags von Perejaslaw, mit dem sich die in der Südukraine siedelnden Kosaken der Oberhoheit des russischen Zaren unterstellt hatten. In den Zerfallswirren der Sowjetunion stand die Krim vor der Entscheidung, sich von der Ukraine loszusagen und zu Rußland zurückzukehren. Der heutige Status der Krim als autonome Republik innerhalb der Ukraine wurde seinerzeit als Kompromißlösung ausgehandelt. Die Autonomie bedeutet unter anderem den gleichberechtigten Status für das Russische als Amtssprache. Auch sonst ist der russische Einfluß auf der Krim stark, nicht zuletzt deshalb, weil der Marinehafen von Sewastopol ein wichtiger Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte ist. Sie kann den Hafen bis 2042 nutzen, nachdem Wiktor Janukowitsch den Pachtvertrag, der ursprünglich 2017 hatte auslaufen sollen, im Tausch gegen einen Gasrabatt um 25 Jahre verlängert hatte. Man kann damit rechnen, daß die neuen Machthaber in Kiew versuchen werden, diesen Vertrag aufzukündigen.

Die Krimtataren haben sich seit der ukrainischen Unabhängigkeit immer betont zu Kiew bekannt. Wie die Auseinandersetzungen vom Mittwoch vor dem Krim-Parlament in Simferopol gezeigt haben, droht der Streit um die Zukunft der Halbinsel damit eine ethnische Fassade zu bekommen. Während die Russen fürchten müssen, daß die neue, nationalistische Regierung in Kiew ihre Autonomierechte beschneidet oder streicht, hätten die Tataren von einer solchen Entwicklung nur zu gewinnen – bis dahin, daß sie zum Titularvolk der Krim erklärt werden könnten. Entsprechende Forderungen gibt es schon seit Jahren; es wäre allerdings angesichts der ethnischen Mehrheitsverhältnisse eine klare Provokation von seiten der Regierung in Kiew, jetzt darauf einzugehen. Weil damit auch die ansässigen Ukrainer in eine Minderheitenposition im eigenen Land kämen, scheint ein solcher Schritt derzeit wenig wahrscheinlich.