Seit Juli 2015 hat die AKP-Regierung unter ihrem Vorsitzenden und Staatschef Recep Tayyip Erdoğan den Krieg gegen seine eigene kurdische Bevölkerung wieder aufgenommen.

Schon im April desselben Jahres hatte er die Gespräche, die sein Geheimdienst auf der Insel Imrali mit Abdullah Öcalan führte, abgebrochen und den Führer der PKK in die totale Isolation zurückgeschickt. Seitdem haben weder seine Familie noch seine Rechtsanwälte oder Abgesandte der HDP Kontakt zu ihm. Der Krieg, der derzeit nicht nur im türkischen Südosten, Nordkurdistan, wütet, sondern auch auf die Rückzugsgebiete der PKK in den Kandilbergen des Irak ausgedehnt worden ist, wird von der türkischen Armee mit äußerster Brutalität und ohne Rücksicht auf die Regeln des humanitären Völkerrechts geführt.

Seit Monaten hat die Regierung über zahlreiche kurdische Städte, u.a. Diyarbakir, Cizre, Silopi und Sirnak den Ausnahmezustand verhängt. Sie hat Ausgangssperren verordnet und Hunderttausende durch Polizei und Militär hermetisch abgeriegelt. Humanitäre Hilfe wird nicht durchgelassen, die Wasser- und die Stromversorgung wurden gekappt. Panzer stehen in den Straßen, Wohnviertel werden angegriffen, innerhalb der Gebiete mit Ausgangssperre schießen Scharfschützen auf alles, was sich bewegt. In den Sperrgebieten leisten nur die Verteidigungsverbände der PKK-Jugendorganisation YDG-H und der YPS („Zivile Verteidigungseinheiten“) bewaffneten Widerstand.

I. Der kurdische Kampf um Selbstbestimmung hat zwei Phasen unterschiedlicher Strategie und Kampfführung durchlebt, die auch völkerrechtlich unterschiedlich bewertet werden müssen. Der bewaffnete Kampf wurde von der PKK 1984 aufgenommen und bis Mitte der 90er Jahre geführt. Ziel war die Unabhängigkeit eines von der Türkei getrennten souveränen Staates Kurdistan, welches das kurdische Siedlungsgebiet in Südostanatolien umfassen sollte. Spätestens seit 1996 änderte die PKK ihre Strategie, verzichtete auf Sezession und die Gründung eines separaten Staates, bot der türkischen Regierung einen Waffenstillstand an und verzichtete auf die Fortführung des bewaffneten Kampfes.[1] Seitdem beschränkte sich ihre Forderung auf Selbstverwaltung und Autonomie innerhalb der türkischen Grenzen.

Bis in die neunziger Jahre war die Unterdrückung der Kurden durch die türkischen Regierungen, die Verweigerung der elementaren Grund- und Menschenrechte, die Leugnung ihrer kurdischen Identität, ja, ihre faktische Kolonisierung so offensichtlich, dass die PKK durchaus den Charakter einer Befreiungsbewegung hatte. Sie führte damals einen legitimen Kampf um Unabhängigkeit. Doch haben ihr weder die UNO noch die tonangebenden europäischen Staaten diesen völkerrechtlich privilegierten Status eingeräumt. Die Staaten folgten ihrem NATO-Partner Türkei, der die PKK nicht als legitime Vertreterin des kurdischen Volkes anerkannte und ihren Kampf als Terrorismus einstufte. Sie griffen auch nicht ein, als die türkische Armee die in den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von 1977 kodifizierten Vorschriften zum Schutz der Zivilbevölkerung und Gefangenen (Verbot der Folter, erniedrigender und entwürdigender Behandlung, keine Sondergerichte) nicht einhielten.

II. Spätestens seit 1996 hat sich die Situation mit dem Verzicht auf einen separaten kurdischen Staat und den bewaffneten Kampf grundlegend geändert. Die türkische Regierung hat jedoch diesen Strategiewechsel niemals anerkannt. Nach wie vor werden mit dem Vorwurf des Separatismus Bürgerinnen und Bürger, die die Forderung nach Selbstverwaltung und Autonomie in den Grenzen der Türkei unterstützen, verfolgt, inhaftiert und mit Prozessen überzogen. Seit der Gefangennahme von Abdullah Öcalan und seiner Inhaftierung auf der Insel Imrali im Jahr 1999 wechselt die türkische Regierung ihre Taktik in der kurdischen Frage zwischen Dialog und Krieg.

In diesem Krieg seit Juli 2015 geht es nicht mehr um die Macht im Staat, sondern um das pure Überleben der kurdischen Bevölkerung und Bewegung. Etwa 10.000 Soldaten, Polizisten und Spezialeinheiten nehmen an den Operationen gegen die Dörfer und Ortschaften teil, die sie durch Panzerbeschuss und Bombardierung aus der Luft in Trümmerlandschaften verwandeln. Über 200.000 Kurdinnen und Kurden sind im eigenen Land auf der Flucht. An die 200 tote Zivilisten werden beklagt. Die Regierung hat zudem neue Todesschwadrone eingesetzt, von denen die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet: „So setzen die Sicherheitskräfte, wenn sie in die Städte vordringen, als Vorhut die als besonderes brutal geltenden ‚Esedullah Timleri’ ein, über denen ein Schatten des Geheimnisvollen liegt. Sie dringen in die Häuser ein, zerstören, töten.“[2] Es soll sich um „verurteilte Kriminelle“ und „Personen, die mit dem ‚Islamischen Staat’ in Verbindung“ stehen, handeln.   Da die Kämpfer und Kämpferinnen der PKK sich in die Kandil-Berge zurückgezogen hatten und in diese Kämpfe nicht eingegriffen haben, musste die Zivilbevölkerung eigene bilden, die sich der Armee entgegenstellen.

III. Was bis 1996 als Aufstand der kurdischen Bevölkerung gegen die türkische Staatsmacht, als Kampf um einen eigenen Staat gesehen werden musste, hat sich nun in einen Verteidigungs- und Überlebenskampf gewandelt. Weder die PKK noch die kurdische Bevölkerung führen Krieg, sondern der türkische Staat, und zwar in Form eines offenen Terrorfeldzuges. Staatschef Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu sprechen offen von „säubern“ und „auslöschen“. Das ist auch völkerrechtlich von Bedeutung. Denn es geht um die Berechtigung des Widerstands der Kurden mit Gewalt, völkerrechtlich um den Kombattantenstatus für die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer. Er ist mit bestimmten Rechten und Pflichten verbunden.

Es war die türkische Armee, die im Juli 2015 den Waffenstillstand nach einer längeren Periode der politischen Gespräche gebrochen und alle weiteren Waffenstillstandsangebote des Führers der PKK, Abdullah Öcalan, abgelehnt hat. Sie ist der Angreifer, gegen den es sich zu verteidigen gilt. Der Widerstand, auch der militärische, gegen eine derartige Aggression, ist gerechtfertigt. Das ist der Grundgedanke des Verteidigungsrechts gemäß Artikel 51 UNO-Charta, auch wenn dieser nur für den klassischen Krieg zwischen den Staaten formuliert ist. Dieses Recht muss jedoch auch für den Bürgerkrieg gelten, wenn die Aggression der staatlichen Armee so eindeutig und rücksichtslos nicht einmal die Zivilbevölkerung und ihre Wohnungen verschont und dementsprechend selbst rechtswidrig ist. Das humanitäre Völkerrecht verlangt von dem Angegriffenen nicht, den Angriff wehrlos durch Flucht oder Unterwerfung zu ertragen, zumal wenn er diesen Angriff nicht provoziert hat. Allerdings sind auch die kurdischen Kämpfer an die allgemeinen Regeln des humanitären Völkerrechts gebunden, die vor allem Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen verbieten.

Das Schweigen der Verbündeten des NATO-Partners Türkei zu diesem sich in aller Öffentlichkeit abspielenden Massenmord ist erschreckend. Der „westlichen Wertegemeinschaft“ ist offensichtlich die Hilfe der Türkei bei der Abwehr der syrischen Flüchtlinge von den EU-Grenzen wichtiger als das Schicksal der Menschen in Südostanatolien. In all den Jahrzehnten zuvor haben die NATO-Staaten sich niemals um die Lage der Menschenrechte und die Hilferufe der Kurdinnen und Kurden gegen die mörderische Repression der türkischen Regierungen gekümmert. Dass diese Gleichgültigkeit sich jetzt offensichtlich fortsetzt, ist eine Schande auch für die Bundesregierung.

Unterzeichnen Sie den Aufruf unter: www.kurdistankrieg-stoppen.de

Prof. Dr. Norman Paech  war bis 2003 Professor für öffentliches Recht an der Universität Hamburg und ist wissenschaftlicher Beirat der IPPNW und IALANA.

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[1] Erklärung von Abdullah Öcalan gegenüber seinen Besuchern Prof. Dr. Gottstein, Prof. Dr. Albrecht und dem Autor in Damaskus am 21. Juni 1995.

[2] FAZ vom 18.12.2015:  “Aufstand der verlorenen kurdischen Jugend”

Quelle: http://blog.ippnw.de/?p=1822#more-1822