swp-journal der FES vom 3.11.14 : Sechs Fragen zur Lage an Ingrid Ross in Ost-Jerusalem by Stefan Rebmann

In der vergangenen Woche ist es zu massiven Zusammenstößen in Jerusalem gekommen. Wie ist die Lage aktuell? Wie sind die aktuellen Spannungen zu erklären?

Die Lage ist seit dem Rachemord an dem Palästinenser Mohammed Abu Khdeir in Jerusalem Anfang Juli äußerst angespannt. In den von Israel annektierten Ost-Jerusalemer Stadtteilen kommt es seither regelmäßig zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen palästinensischen Jugendlichen und der israelischen Polizei.

Vor diesem Hintergrund finden die derzeitigen Auseinandersetzungen um die Frage der Religionsausübung von Juden auf dem Tempelberg beziehungsweise dem Haram al-Sharif statt.

Eine Gruppe nationalistischer rechtsgerichteter Israelis fordert den ungehinderten Zugang von Juden zu dem Areal, um auch dort zu beten. Sie genießt die Unterstützung von israelischen Parlamentsabgeordneten wie Mosche Feiglin vom Likud. Das jedoch stellt eine Verletzung des Status Quo dar, der nach dem 1967er Krieg zwischen Jordanien und Israel vereinbart wurde. Angehörigen anderer Religionen ist der Zutritt als Touristen erlaubt. Doch sie dürfen dort keine religiösen Handlungen ausführen. Juden ist die Klagemauer als heilige Stätte vorbehalten. Der Status Quo wurde bislang von der Mehrzahl der jüdischen Religionsgelehrten mitgetragen. Denn sie lehnen das Gebet auf dem Tempelberg aus religiösen Gründen ab.

Die Kontroverse um den Tempelberg bewegt Muslime weltweit.

Auch die Gruppierung um den vergangenen Mittwoch von einem Palästinenser ermordeten Rabbi Yehuda Glick fordert eine Änderung des Status Quo. Ihr langfristiges Ziel ist sogar die Wiedererrichtung des jüdischen Tempels und der Abriss von Felsendom und al-Aqsa Moschee. In den letzten Tagen und Wochen haben sich Besuche von prominenten Anhängern dieser Idee auf dem Tempelberg gehäuft. Es kam wiederholt zu Zusammenstößen. Schon im März hatten Likud-Abgeordnete in der Knesset über einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Status Quo beraten.

Die Kontroverse um den Tempelberg bewegt Muslime weltweit. Stimmen in Jordanien fordern die Aufkündigung des israelisch-jordanischen Friedensvertrags. Das zeigt, dass das religiöse Konfliktpotential weit über die Grenzen Israels und Palästinas hinausreicht. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu bekannte sich zwar offiziell zum Status Quo, doch die Palästinenser haben in diese Aussage nur begrenztes Vertrauen. Sie befürchten, dass der Tempelberg räumlich und zeitlich geteilt wird. So wird es am Grab der Patriarchen in Hebron gehandhabt.

 

Präsident Abbas hat nun eine neue Friedensinitiative bei den Vereinten Nationen angekündigt. Was will, was kann er erreichen?

Präsident Abbas ist überzeugt, dass der Konflikt nicht mit Gewalt, sondern nur am Verhandlungstisch gelöst werden kann. Nachdem die jüngste Verhandlungsrunde unter Schirmherrschaft von US-Außenminister John Kerry scheiterte, herrscht jedoch Stillstand. Abbas verfolgt das Ziel, die Gespräche zu erneuern, jedoch auf veränderter Verhandlungsgrundlage. Die Kerry-Gespräche fanden ohne Tagesordnung statt, die vorher abgestimmt worden wäre. Alle bisher in Verhandlungen erreichten Kompromisse, alle internationalen Resolutionen wurden außer Acht gelassen.

Die Palästinenser beklagten vor allem, dass die israelische Seite nicht bereit war, auf einer Karte die künftige Grenze zwischen israelischem und palästinensischem Staatsgebiet einzuzeichnen, über die hätte verhandelt werden können. Mit der Sicherheitsratsresolution plant Abbas zum einen, Israel vorab auf eine Verhandlungsgrundlage zu verpflichten. Zum anderen soll ein „Verfallsdatum“ der Besatzung festgesetzt werden, das verhindert, dass die Verhandlungen zu einem endlosen Selbstzweck werden. Im UN-Sicherheitsrat wird er Israels Zustimmung zu dem veränderten Verhandlungsmodell zwar nicht erzwingen können. Eine eindeutige Positionierung des höchsten Welt-Gremiums würde jedoch helfen, die nächste Verhandlungsrunde ergebnisorientiert zu gestalten und starke internationale Vermittler in dem asymmetrischen Konflikt an Bord zu holen.

 

Umfragen belegen, dass die Unterstützung einer Ein-Staaten-Lösung in den Palästinensergebieten immer weiter zunimmt. Wendet sich die Bevölkerung von dem Projekt und zugleich von der erfolglosen politischen Elite ab?

Das erklärte Ziel der Mehrzahl der Palästinenser ist nach wie vor die nationale Selbstbestimmung in einem eigenen Staat in den Grenzen von 1967. Zwar weisen die Ergebnisse öffentlicher Meinungsumfragen darauf hin, dass als Alternative die Ein-Staaten-Lösung Zulauf erhält, doch ist dies nur Ergebnis einer nüchternen Analyse der derzeitigen Verhältnisse. Wenn Israel nicht gewillt ist, einen Palästinenserstaat zu akzeptieren, dann wollen die Menschen zumindest die gleiche Rechte wie Israelis genießen und nicht länger der Besatzung unterworfen sein. Die politische Elite in Ramallah hat sich dem Ziel der Zwei-Staaten-Lösung verschrieben. Da auch über 20 Jahre nach dem Beginn des Oslo-Prozesses keine Fortschritte erzielt wurden, sinkt ihr Ansehen zunehmend. Gleichzeitig hat aber auch die rivalisierende Hamas keine überzeugenden Zukunftskonzepte geliefert, so dass das Vertrauen in alle politischen Parteien gesunken ist.

 

In der vergangenen Woche hat Schweden den Palästinenserstaat anerkannt. Zuvor hatte das britische Unterhaus sich ähnlich geäußert. Wie wird das in den Palästinensischen Gebieten wahrgenommen?

Die Palästinenser im Westjordanland, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem haben die Abstimmungen eher am Rande, doch mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Für sie ist die Anerkennung Palästinas ein längst überfälliger Schritt. Sie fragen: „Hat die Weltgemeinschaft nicht auch Israel lange vor der Lösung des israelisch-palästinensischen bzw. israelisch-arabischen Konflikts bereits anerkannt?“ Gleichzeitig wissen die Palästinenser aber auch, dass dies nur einen symbolischen Wert als internationales Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung hat. Ihrer Auffassung nach tut die derzeitige Regierung Netanjahus mit ihrer Siedlungspolitik alles, um diese zu verhindern. Vor allem in Gaza sind greifbare Fortschritte jenseits von diplomatischen Punktsiegen in Stockholm oder Schweden notwendig, um eine humanitäre Katastrophe – und ganz konkret die nächste heiße Phase des Konflikts – zu verhindern. Seit Sonntag ist der Gazastreifen wieder komplett abgeriegelt: Nach dem Anschlag auf dem Sinai hat Ägypten den Grenzübergang Rafah geschlossen. Nach dem Abschuss einer Rakete aus Gaza in israelisches Territorium ist auch der einzige Übergang für Personen- und Warenverkehr aus Israel bis auf weiteres geschlossen.

 

Was für Auswirkungen hat das? Sie waren in der vergangenen Woche mehrfach in Gaza. Wie ist die Lage?

Bereits vor dem letzten Waffengang im Sommer war die UN zu der Einschätzung gekommen, dass Gaza im Jahr 2020 nicht mehr bewohnbar sein wird. Es mangelt schlichtweg an der notwendigen Infrastruktur, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Die Kriegsschäden von 2008/2009 und 2012 sind noch überall sichtbar. Für einen Wiederaufbau reichte weder die Zeit noch das verfügbare Material. Im Zuge der Operation „Protective Edge“ wurden nun weiterer Wohnraum, Schulgebäude, Fabriken, Kliniken, Einrichtungen für Strom- und Wasserversorgung beschädigt oder zerstört. Die Zusagen der internationalen Geber in Kairo und den Einfuhrmechanismus für die Wiederaufbaumaterialien betrachten die Palästinenser in Gaza sehr skeptisch. Viele haben wenig Interesse an den kurzfristigen Hilfsleistungen, die nun anlaufen. Sie sind zwar (lebens-)notwendig, ändern aber nichts an den grundlegenden Rahmenbedingungen.

Die Zusagen der internationalen Geber in Kairo und den Einfuhrmechanismus für die Wiederaufbaumaterialien betrachten die Palästinenser in Gaza sehr skeptisch.

Die israelische Blockadepolitik, die von Ägypten mitgetragen wird, verhindert eine nachhaltige, eigenständige Entwicklung Gazas und treibt die Gesellschaft tiefer in die Abhängigkeit von internationalen Hilfen. Maßnahmen zur psychosozialen Begleitung der tief traumatisierten Bevölkerung, beispielsweise, sind zwar kurzfristig sinnvoll. Sie sind aber kein Ersatz für eine Perspektive, dauerhaft in Frieden, Freiheit und Würde zu leben. Die Gebergemeinschaft hat beschworen, den Kreislauf von ausländisch finanziertem Aufbau und kriegerischer Zerstörung des Gazastreifens durchbrechen zu wollen. Bislang ist ein Kurswechsel Israels jedoch nicht zu erkennen. Dabei hätte die palästinensische Versöhnung Israel die Chance geboten, Präsident Abbas als Verhandlungspartner anzuerkennen, der alle im Westjordanland und dem Gazastreifen lebenden Palästinenser repräsentiert. So hätte die Einheit der palästinensischen Gebiete durch die Aufhebung der Blockade gestärkt werden können.

 

Die Einheit zwischen Westjordanland und Gazastreifen sollte nicht zuletzt durch eine palästinensische Einheitsregierung gestärkt werden. Wie steht es um die Umsetzung?

Seit Anfang Juni werden der Gazastreifen und das Westjordanland von der Konsensregierung unter Premierminister Rami Hamdallah regiert. Im Gazastreifen tut sich die neue Regierung jedoch schwer, die Verantwortung tatsächlich zu übernehmen. Zwar ist das Kabinett der de facto Hamas-Regierung unter Ismael Haniyeh mit dem Amtsantritt der Konsensregierung zurückgetreten, doch sind sämtliche Strukturen vor Ort unverändert geblieben. Die Aufbauarbeit, die dort nach den vergangenen drei Kriegen zu leisten ist, gleicht einer Herkulesaufgabe. Die neue Regierung wurde zwar von der internationalen Gebergemeinschaft durch umfangreiche Hilfszusagen bestärkt, doch die zentrale Frage, wer die Entscheidung über Krieg und Frieden (mit Israel) fällt, ist noch ungeklärt. Der Posten des Innenministers ist vakant, das Portfolio wurde kommissarisch von Premierminister Hamdallah übernommen. Die Konsensregierung verfügt über keine loyalen Sicherheitskräfte im Gazastreifen, die eigentlich zumindest an den Grenzübergängen hätten postiert werden sollen.

Die Bildung der Konsensregierung war nur ein Aspekt des sogenannten Versöhnungsabkommens von „Beach Camp“. In entscheidenden Punkten wurde die Umsetzung vertagt. Ursprünglich waren für Dezember Neuwahlen angesetzt worden, um der Palästinensischen Autonomiebehörde neue Legitimation zu verleihen. Doch eine Verschiebung auf 2015 ist klar absehbar. Die Hamas hat wenig Interesse an der Übernahme der Regierungsverantwortung mit eingeschränkter Autonomie unter israelischer Besatzung. Ihr geht es vielmehr um die Aufnahme in das höchste Repräsentativ- und Entscheidungsorgan der Palästinenser – die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO. Doch auch in dieser Hinsicht wurden bislang keine Schritte unternommen.