Knut Mellenthin     aus: junge Welt  31.01.2014


Mehr als 3000 Menschen wurden durch Raketen unbemannter Flugkörper getötet, seit Barack Obama vor fünf Jahren ins Weiße Haus einzog. Weltweit ließ der Friedensnobelpreisträger rund 390 Drohnenangriffe fliegen – fast achtmal so viel wie sein Vorgänger George W. Bush im gleichen Zeitraum. Obama brauchte volle drei Jahre, bis er im Januar 2012 erstmals die Tatsache dieser Attacken öffentlich eingestand: in mageren zwei Sätzen, ohne auf konkrete Einzelheiten einzugehen. Seither ist zwar die Zahl der Angriffe stark gesunken. Aber nach wie vor verweigert die US-Regierung alle sachlichen Auskünfte zum Thema. Angeblich aus Sicherheitsgründen. Obwohl mehrere private Institutionen laufend detaillierte Statistiken, Opferzahlen und Analysen publizieren. Eine von diesen Arbeitsgruppen ist das britische »Bureau of Investigative Journalism«. Am Mittwoch veröffentlichte es den bisher ausführlichsten offiziellen Bericht über Zahl und Folgen der Drohnenattacken.

Es handelt sich dabei um ein »durchgesickertes« internes Dokument der pakistanischen Regierung, das 330 solcher Angriffe einzeln mit Datum und Ort auflistet und kurz die Folgen benennt. Bis jetzt hat Pakistan keine solche Statistik veröffentlicht – und nährt damit den Verdacht, daß die wechselnden Regierungen in Islamabad trotz stereotyp gewordener verbaler Proteste an einer internationalen Diskussion dieser Angriffe, vor allem in der UNO, nicht interessiert sind.

Der jetzt von dem britischen Büro veröffentlichte pakistanische Geheimbericht gibt eine Opferzahl von 2 217 Toten an. Die Journalisten­initiative hat unabhängig davon für den selben Zeitraum eine Summe von mindestens 2 371 Toten in Pakistan errechnet. Diese Zahlen liegen also nahe beieinander. Das Büro macht jedoch auf eine erstaunliche Tatsache aufmerksam: Genau seit dem Amtsantritt von Barack Obama im Januar 2009 kommt die Bezeichnung »Zivilisten« für einen Teil der Opfer in dem Bericht aus Islamabad nicht mehr vor. Dabei ist die Tatsache, daß es unter den Toten und Verletzten immer wieder auch Nichtkombattanten, einschließlich Frauen und Kindern, gab, gut dokumentiert. Sie wurde in Einzelfällen von pakistanischen Behörden bekanntgemacht und – wenn auch selten – sogar von der US-Regierung ausdrücklich eingestanden.

Die interne pakistanische Begründung für diese Umstellung der Sprachregelung lautet, daß der Begriff »Zivilisten« gerade unter den realen Verhältnissen im Nordwesten des Landes nicht exakt zu definieren sei. Das ist zweifellos wahr. Aber die seit fünf Jahren geübte Praxis, die Opfer hauptsächlich in Ortsansässige und »Fremde« zu unterscheiden, vermag dennoch nicht zu überzeugen. Als der UN-Beauftragte Ben Emmerson Pakistan im vorigen März besuchte, gab das dortige Außenministerium ihm gegenüber die Zahl der getöteten »Zivilisten« mit mindestens 400, möglicherweise bis zu 600 an. Überraschenderweise sprach aber das pakistanische Verteidigungsministerium im Oktober nur noch von 67 toten Zivilpersonen. Diese Zahl wurde später als »falsch und manipuliert« zurückgezogen. Das Londoner Büro geht davon aus, daß in Pakistan durch Drohnenangriffe zwischen 416 und 951 »Zivilisten« getötet wurden. 168 bis 200 dieser Opfer seien Kinder gewesen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 31. Januar 2014