Das Potsdamer Abkommen oder der Versuch, Deutschland mit dem Völkerrecht wieder aufzubauen

Der Text ist die überarbeitete und ergänzte Form eines Vortrages, den der Autor auf der Internationalen historischen Konferenz „Die Potsdamer Konferenz: Bedeutung und Wirkung für ein friedliches und sozial gerechtes Europa“ am 7./8. Mai 2005 in Potsdam gehalten hat.

Der Rückblick auf ein 70 Jahre altes Abkommen mag für manchen allenfalls ein historisches Interesse ansprechen und anderen als der Blick in ein durch die zwischenzeitliche Entwicklung überholtes und für die aktuellen Probleme totes Dokument erscheinen.

Das übersieht, dass die Alliierten der damaligen Zeit in diesem Abkommen an einem konkreten Beispiel – der Wiedereingliederung Deutschlands in die Staatengemeinschaft - einen Einblick in ihr Konzept einer neuen Friedensordnung geben, welches sie bereits in der UNO-Charta kurz zuvor kodifiziert hatten. Zudem enthält es Entscheidungen über die völkerrechtliche Einordnung Deutschlands in die Nachkriegsordnung, die weit über diesen konkreten Fall Bedeutung für die aktuellen Territorialkonflikte in der Welt haben.

Versuchen wir zunächst zu klären, was die Alliierten nach dem Sieg über Nazi-Deutschland mit dem Abkommen wollten. Der vom Zweiten Weltkrieg erlösten Bevölkerung präsentierten sich die Forderungen ganz unverblümt in einem Flugblatt, welches im Sommer 1945 verteilt wurde. Darin heißt es: „Die Niederlage, die Deutschland durch seine eigene Überheblichkeit erlitten hat, wird nie wieder durch Waffengewalt abgeändert werden. Wie immer sich auch das politische Gesicht der Welt gestalten möge, die vereinten militärischen Kräfte, die Deutschland jetzt besiegt haben, werden jedem zukünftigen deutschen Angriffswunsch geschlossen im Wege stehen. Da die deutsche Rüstungsindustrie vollständig verwüstet ist und Millionen deutscher Männer gefallen sind, wird die Übermacht der Vereinten Nationen an Industrie- und Menschenmaterial über viele Jahre noch überwältigender sein, als sie es schon vorher war. Und obwohl der Verlust an Menschenleben im Laufe der Zeit durch das Heranwachsen von Kindern wieder ausgeglichen wird, der deutschen Industrie wird es nie wieder erlaubt werden, Waffen für einen deutschen Angriffskrieg zu erzeugen. Deutschlands Niederlage wird niemals durch Waffengewalt abgeändert werden. Nur durch friedliche Arbeit kann Deutschland jemals hoffen, sich als Nation wieder aufzurichten.“#

Die Ziele der Alliierten

Das politische Konzept einer Nachkriegs-Friedensordnung, wie sie der USA unter Präsident Franklin D. Roosevelt vorschwebte, zielte auf eine globale, also über Europa hinausgehende Gleichgewichtsordnung, deren Rückgrat die freundschaftlichen Beziehungen unter den Großmächten bilden sollte. Zu diesen Mächten zählte er nur noch die Sowjetunion, Großbritannien und die Volksrepublik China, die übrigen europäischen Staaten spielten in diesem Konzept keine besondere Rolle. Roosevelt war auch im Gegensatz zur sowjetischen Führung von der langfristigen Annäherung der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme überzeugt, deren antagonistischen Gegensatz in der sowjetischen Interpretation er nicht teilte. Seine oft als illusionär bezeichnete One-World-Konzeption baute auf die atlantisch-russische Allianz für Frieden. Sie sollte in der UNO zu einem kollektiven System der Sicherheit zusammengefügt werden. Sie stützte sich auf das Prinzip des Freihandels, den freien Waren- und Kapitalaustausch, wie er in den Bretton-Woods-Organisationen institutionalisiert wurde. Die weltweite Dominanz liberal-demokratischer parlamentarischer Systeme war für ihn und den britischen Premier Winston Churchill eine selbstverständliche Voraussetzung des Erfolgs dieser Friedensordnung.

Deutschland spielte nur insofern eine Rolle, als sein militaristisches und nationalsozialistisches Potenzial samt seiner ökonomischen Grundlage vollkommen vernichtet werden sollte. Auch eine territoriale Zerstückelung wurde nicht ausgeschlossen, wenn sie dem Ziel nutzen konnte, den deutschen Einfluss im europäischen Staatensystem vollständig zu demontieren. Man wollte aus dem Fehler lernen, den man 1918 begangen hatte, als die Alliierten es versäumt hatten, Deutschland zu besetzen – ein Fehler, den man für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mitverantwortlich machte. In dieser Frage sowie in der engen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion bei der Behandlung Nachkriegsdeutschlands bestand noch Einigkeit in der nach dem Tode Roosevelts (April 1945) von Harry S. Truman geleiteten US-Delegation in Potsdam. Truman war ein in der Wolle gefärbter Antikommunist und versuchte schon während der Konferenz Stalin mit der ihm vertraulich gesteckten Nachricht vom erfolgreichen Atomwaffentest in der Wüste von Nevada zu beeindrucken. Erst im März 1947 fand der Kalte Krieg allerdings in seiner „Truman-Doktrin“ seinen vollen Ausdruck.

Der Abschnitt III des Abkommens mit der Überschrift „Deutschland“ enthält die wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Grundsätze für die Politik der Nachkriegszeit, die unter den Schlagworten der Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entmonopolisierung bekannt geworden sind. Trotz aller Differenzen in den Vorstellungen der Siegermächte hatten die im Februar 1945 auf der Krim zusammengekommenen Hauptmächte USA, Sowjetunion und Großbritannien die Leitlinien des Potsdamer Abkommens bereits formuliert: „Das Ziel dieser Übereinkunft bildet die Durchführung der Krim-Deklaration über Deutschland. Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann. Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wieder aufzubauen.“

Lassen wir hier einmal die durchaus lohnende Diskussion über den Misserfolg des Vorhabens, den deutschen Militarismus und Nazismus gänzlich auszurotten, beiseite. Wer käme aber nicht ins Grübeln bei der Erinnerung an jene Sätze des Flugblattes vom Sommer 1945: „... der deutschen Industrie wird es nie erlaubt werden, Waffen für einen deutschen Angriffskrieg zu erzeugen. ... Nur durch friedliche Arbeit kann Deutschland hoffen, sich als Nation wieder aufzurichten.“ Schon die Wiederbewaffnung und die Aufnahme in die NATO standen quer zu den ursprünglichen Absichten der Alliierten. Aber die Beteiligung Deutschlands am völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien, die Statistik, die Deutschland seit Jahren auf dem dritten Platz der Nationen für Rüstungsexport führt, und die Beteiligung an weltweiten Kriegseinsätzen stehen im krassen Gegensatz zum Ziel der Entmilitarisierung. Gestehen wir uns also ein, dass die friedenspolitischen Grundsätze heute ebenso wenig eine Rolle in den aktuellen Diskussionen der westlichen Staatengemeinschaft spielen wie die Reparationen, die seinerzeit ein äußerst strittiges Thema waren, oder die verweigerte Aburteilung der Kriegsverbrecher, eines der dunkelsten Kapitel der Nachkriegsgeschichte.

Doch sei noch an einen der Grundsätze erinnert, der gerade in der gegenwärtigen Eurokrise von höchster Aktualität sein könnte. Die Alliierten waren sich in ihrer Analyse vollkommen einig, dass die Naziherrschaft und der Aggressionskrieg Hitlers erst durch die massive Unterstützung durch die führenden Wirtschaftsmonopole in Deutschland möglich geworden war. Im Potsdamer Abkommen forderten sie deshalb: „In praktisch kürzester Frist ist das deutsche Wirtschaftsleben zu dezentralisieren mit dem Ziel der Vernichtung der bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft, dargestellt insbesondere durch Kartelle, Syndikate, Trusts und andere Monopolvereinigungen.“ (Abschnitt II, Ziff. 12.) Dieser Grundkonsens über die Dezentralisierung der Wirtschaft wurde auch in den folgenden Jahren nicht in Frage gestellt. Doch zeigten sich in der konkreten Politik alsbald Differenzen zwischen Briten und Amerikanern. Die Labour-Regierung hielt die Sozialisierung für das wirksamste Mittel zur Entmachtung privatwirtschaftlicher Macht. Die britische Militärverwaltung beschlagnahmte deshalb bereits im November 1945 das gesamte Krupp-Vermögen, enteignete entschädigungslos im Dezember alle Zechen in der britischen Zone und übernahm die gesamte Stahlindustrie in treuhänderische Verwaltung. Die USA hingegen tasteten die Eigentumsverhältnisse nicht an und beschränkten sich im Wesentlichen auf die Aufspaltung der früheren Großunternehmen. Sozialisierungsmaßnahmen prinzipiell ablehnend gegenüber eingestellt, wollten sie jede Präjudizierung der deutschen Wirtschaftsordnung vermeiden. So wurden auch alle Sozialisierungsvorstöße der Deutschen in den Ländern verzögert und aufgeschoben. In Deutschland selbst wurden die Entflechtungsmaßnahmen zunächst von allen politischen Kräften unterstützt, die gleichzeitig auch zum Teil umfangreiche Sozialisierungsforderungen erhoben. So ist auch der heute weitgehend vergessene und wirkungslose Sozialisierungsartikel 15# im Grundgesetz zu erklären. Doch schon bald drehte sich der Wind und bereits im November 1951 mussten die Westalliierten gegen den vollkommen ungenügenden Kartellgesetzentwurf der Adenauerregierung intervenieren. Sie vermochten zwar einige Änderungen durchzusetzen, aber bis heute haben alle Regierungen und etablierten Parteien es verstanden, dieses Gesetz zahnlos zu halten und die Entmonopolisierung ins Reich linker Träume zu verbannen.

Lassen Sie mich hier auf zwei Bestimmungen des Potsdamer Abkommens eingehen, die heute zwar weitgehend akzeptiert sind aber in der alten Bundesrepublik eine lange und kontroverse Diskussion nach sich gezogen haben. Heute sind sie in ihrer völkerrechtlichen Aussage über den konkreten Anlass hinaus immer noch von Interesse. Ich meine die Bestimmungen zur Grenzregelung und Gebietsabtretung sowie zur Umsiedlung und Vertreibung.

Grenzregelung und Gebietsabtretung

Den immer wieder gestellten Ansprüchen Deutscher aus Enteignungen und Vertreibungen aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg ist endlich 2004 in einem gemeinsamen Gutachten deutscher und polnischer Experten das Fehlen jeglicher Rechtsgrundlage bestätigt worden.# Dennoch hält der Streit über die Grenzbestimmungen des Potsdamer Abkommens offensichtlich immer noch an. Dabei geht es nicht um den Verlauf der Grenze an der westlichen oder östlichen Neiße, der lange Zeit die Diskussion bestimmte. Es geht um die Rechtswirkung des ganzen Abkommens und um die territoriale Kompetenz der Großmächte, deutsche Gebiete abzutreten. Die Polnische Seite bestand von Anfang an auf der definitiven Rechtswirksamkeit der Grenzregelung durch die drei Mächte auf der Potsdamer Konferenz.# Sie verwies auf die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, mit der die Alliierten nicht nur die Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland verkündeten, sondern sich auch das Recht vorbehielten, „später die Grenzen Deutschlands oder irgendeines Teiles Deutschlands und die rechtliche Stellung Deutschlands oder irgendeines Gebietes, das gegenwärtig einen Teil deutschen Gebietes bildet, fest(zu)legen.“ Die Alliierten haben diese Regelung bis hin zum Zwei-plus-Vier Vertrag 1990 nie in Frage gestellt, und auch alle anderen deutsch-polnischen Verträge, wie der von Görlitz 1950, von Warschau 1970 und der Grenzvertrag von 1990 haben die Grenzregelung des Potsdamer Abkommens als endgültig akzeptiert.

Nicht so die deutsche Seite. Keine Regierung der Bundesrepublik – im Gegensatz zu der der DDR - hat jemals die Rechtmäßigkeit der Potsdamer Verfügung über deutsches Gebiet anerkannt. Alle Nachkriegsregierungen haben sich darauf festgelegt, dass nur eine deutsche Regierung über deutsches Territorium verfügen könne. Im September 2003 hat der damalige Bundespräsident Rau (SPD) noch öffentlich bekannt, dass er „die Bestimmungen der alliierten Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam“ als „furchtbares Unrecht“ ansehe.# Bekanntlich haben sie immer an der Fiktion festgehalten, dass das Deutsche Reich auch 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation nicht untergegangen sei, sondern fortexistiere.# Dieses Phantom erlaubte es ihnen, die Übernahme der Regierungsgewalt durch die drei Mächte lediglich als Treuhandschaft zu interpretieren, aus der sich keine Befugnis zu territorialen Entscheidungen ergebe. Es handele sich um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter.# Die Entscheidungen über deutsches Territorium müssten einem späteren Friedensvertrag mit deutscher Mitwirkung vorbehalten bleiben.
Als Tschechen und Deutsche 1996 in Prag über einen solchen Friedensvertrag verhandelten, betonten das U.S State-Departement und die Botschaften Frankreichs, Großbritanniens und Russlands, dass die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens immer noch Gültigkeit hätten. Bundesaußenminister Kinkel jedoch antwortete im Namen der Bundesregierung, dass Deutschland die Potsdamer Beschlüsse niemals als bindend angesehen habe. Die Grenzregelungen werden heute nicht mehr in Zweifel gezogen aber die grundsätzliche rechtliche Dequalifizierung der Potsdamer Beschlüsse – eine deutsche Besonderheit - gibt immer wieder den Kräften wie der „Preußischen Treuhand“ Vorschub, mit Entschädigungs- und Restitutionsforderungen Unruhe, Sorge, Unsicherheit und Empörung hervorzurufen.
Zweifellos wird man die Abtretung deutschen Territoriums auch nach damaliger internationaler Rechtlage nicht als Akt der Bestrafung und Vergeltung für schwerste internationale Verbrechen rechtfertigen können – was auch US-amerikanische Stimmen ablehnen.# Die Legitimation für diese Regelung ohne Beteiligung des vollkommen zerstörten, d.h. nicht nur militärisch und ökonomisch sondern auch politisch zerstörten und handlungsunfähigen Deutschland lag vielmehr in der Übernahme der vollen Regierungsgewalt durch die Alliierten, die sich damit an die Stelle einer deutschen Regierung setzten und für sie rechtsverbindlich handelten. Obwohl es nie einen formalen Friedensvertrag gegeben hat, kann man spätestens mit den Verträgen von Moskau und Warschau 1970# davon ausgehen, dass die Bundesrepublik für sich die bestehenden Grenzen als rechtsverbindlich anerkannt hat.# Doch auch hier herrscht noch Streit. Während ein Teil der Kommentatoren erst dem 2+4-Vertrag und dem Grenzvertrag von 1990 eine konstitutive Regelung der Grenze zuerkennen wollen,# verweisen vor allem die polnischen Autoren darauf, dass der Grenzvertrag auf die in Potsdam festgelegte Linie als existierende Grenze hinweist und dieser Vertrag die Grenzregelung von Potsdam nur bestätige.# Politiker wissen, weswegen sie um solche juristischen Finessen feilschen, denn für Restitutions- und Entschädigungsforderungen ist es wichtig, ob die jetzigen Grenzen bereits 1945 oder erst 1970 bzw. 1990 gezogen worden sind. Eine „rechtswidrige Annexion“ deutscher Gebiete durch Polen im Jahre 1945, die erst mit dem Vertrag von 1990 geheilt wird,# lässt manchen juristischen Spielraum für Forderungen an die polnische Seite. Zollt man der historischen und juristischen Wahrheit jedoch Achtung und erkennt in der Potsdamer Grenzregelung die definitive Gebietsabtretung „als eine Form der Reparation für die von Deutschland verursachten Kriegsschäden und für dessen Kriegsverbrechen“#, so befindet man sich nicht nur in Übereinstimmung mit der Intention des Abkommens, sondern auch mit den unantastbaren Eckpunkten der europäischen Friedensordnung.
Umsiedlung und Vertreibung

Anders zu beurteilen ist hingegen die Umsiedlung und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl auch sie in Kapitel XIII der Potsdamer Beschlüsse verfügt werden. Die drei Mächte hatten entschieden, „dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“ Letzteres ist zweifellos nicht so geschehen. Allein die quantitativen Dimensionen überstiegen bei weitem die Zahlen, die der Alliierte Kontrollrat am 20. November 1945 in seinem Umsiedlungsplan vorgesehen hatte. Statt der 6,65 Mio. auszuweisender Deutscher wurden im März 1949 in der sowjetischen Besatzungszone bereits 4,4 Mio. und in den Westzonen im September 1950 7,8 Mio. registriert – Zahlen, die aber wohl kaum den gesamten Umfang der Vertreibung wiederspiegeln.
Massenvertreibungen waren bis ins 19. Jahrhundert eine legitime Form der Reaktion auf völkerrechtliche Verbrechen, und das Institut de Droit International hat etliche Massenausweisungen als unbedenkliche Praxis zwischen den Staaten angesehen. Der Lausanner Friedensvertrag vom 30. Januar 1930 regelte einen Bevölkerungsaustausch von 0,5 Mio. Angehörigen der türkischen Minderheit in Griechenland gegen 2 Mio. der griechischen Minderheit in der Türkei. Auch danach waren Verträge über Bevölkerungsaustausch nicht selten. Man wird insofern Kapitel XIII des Potsdamer Abkommens keinen Verstoß gegen das am Kriegsende geltende Völkerrecht vorwerfen können.# Doch entsprach das, was tatsächlich folgte, nicht einer „Überführung in ordnungsmäßiger und humaner Weise“.# Schon damals war der Schutz der Menschen- und Minderheitsrechte sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker durch die neue UN-Charta auf einem Niveau festgeschrieben worden, welches die Zwangsausweisungen dieses Umfanges als völkerrechtswidrig erscheinen lässt.# Die historische Einsicht, dass die Umsiedlung der Deutschen Bevölkerungsteile aus den überfallenen und schwer zerstörten Staaten notwendig und faktisch ohne Alternative war, darf nicht den Blick vor den Verbrechen verschließen, die sie begleiteten.
Doch 60 Jahre Integration der Vertriebenen, Wiedergutmachung und Lastenausgleich haben ihre Verbände offensichtlich nicht zufrieden gestellt, wie ihre Aktivitäten immer wieder aufs neue bezeugen. Hat die Bundesregierung auch sehr eindeutig jeden juristischen Anspruch aus Enteignungen und Vertreibungen gegenüber dem polnischen Staat zurückgewiesen, so ist ihre Haltung gegenüber den sog. Beneš-Dekreten von 1945 unter dem Druck der Vertriebenen-Verbänden nicht so entschieden.# Bereits Ende 1944 hatte die tschechoslowakische Exilregierung die Alliierten darauf hingewiesen, dass die Aussiedlung der deutschen Minderheit notwendig sei, da deren aktives antitschechisches Verhalten in der Vergangenheit eine Gefahr auch für den zukünftigen Frieden in Europa erwarten lasse. Die ganz massiven Aktivitäten der Sudetendeutschen zur Destabilisierung und Unterminierung der tschechoslowakischen Souveränität, die schon vor dem Münchener Abkommen von 1938 begonnen hatten, stehen seit der deutsch-tschechischen Historikerkommission# 1996 außer Zweifel. Die Alliierten stimmten der tschechischen Forderung seinerzeit zu und gaben den Dekreten, soweit sie die Ausweisung der Deutschen verfügten, in Kapitel XIII des Potsdamer Abkommens die völkerrechtliche Legitimation. Nur in Deutschland und Österreich wird die Debatte von den Vertriebenenverbänden periodisch angeheizt und mit „Gutachten“ die Forderung nach Aufhebung der Beneš-Dekrete als völkerrechtswidrig gefüttert. Noch 2005 nannte der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber die Gesetze eine „offene Wunde Europas“# und sein Nachfolger Horst Seehofer erklärte 2011, dass den Gesetzen „Rechtsauffassungen“ zugrunde lägen, „die nicht in die europäische Werteordnung hineinpassen“.# Während sich der Bundesvorsitzende der „Sudetendeutschen Landsmannschaft“ Bernd Posselt (CSU) 2005 dazu hinreißen ließ, die Umsiedlung als „Genozid“ zu bezeichnen.# Sowohl das Europäische Parlament wie die Europäische Kommission haben in zwei Gutachten die Forderung als unbegründet abgelehnt. Die Gesetze würden nicht im Widerspruch zur Europäischen Rechtsordnung und deren acquis communautaire stehen.#  Dennoch werden auch diese definitiven Aussagen die besonders reaktionären Geister nicht beruhigen.
Modell für zukünftige Friedensregelungen?

Lassen wir diese Geister einmal in ihrer Flasche, so besteht doch die berechtigte Frage, ob Gebietsabtretungen und Massenausweisungen ein legitimes Instrument künftiger Friedensverträge sein können. Ist das Potsdamer Abkommen, obwohl kein definitiver Friedensvertrag, dennoch richtungsweisend für spätere Friedensverträge oder evtl. doch nur Ausdruck der speziellen Situation am Ende eines Weltkrieges, der auch das Ende einer völkerrechtlichen Epoche markiert?

In den zeitgleich zum Potsdamer Abkommen verabschiedeten Nürnberger Prinzipien zur Bestrafung der Kriegsverbrecher wurde die Deportation jeglicher Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges als Verbrechen gegen die Menschheit eingestuft.# Und es sollte auch Juristen nicht ganz einleuchten, wieso dies bei der Ausweisung nach dem Krieg anders zu bewerten sein sollte. Zahlreiche internationale Konventionen der Nachkriegszeit wie die Vierte Genfer Konvention von 1949, die Konvention über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung von 1965 und die beiden Menschenrechtspakte von 1967 haben die zwangsweise Massenausweisung der Zivilbevölkerung in Friedenszeiten, die auf ihrer Herkunft oder Nationalität beruht, verboten. Artikel 3 Absatz 1 des Vierten Zusatzprotokolls zu der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1951 lautet: „Niemand darf durch eine Einzel- oder Kollektivmaßnahme aus dem Hoheitsgebiet des Staates ausgewiesen werden, dessen Angehöriger er ist.“ Und Art. 4 bestimmt: „Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig.“ Ähnliche Verbote von Zwangsausweisungen finden wir in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969 und in der Afrikanischen Menschenrechtskonvention von 1981.

Wir haben heute davon auszugehen, dass Massendeportationen und Zwangsausweisungen der Zivilbevölkerung nicht mehr dem aktuellen Stand des Völkerrechts entsprechen. Das Potsdamer Abkommen markiert gleichsam den Wendepunkt von der Anerkennung zum Verbot derartiger Praxis zwischen den Staaten. Weniger Kapitel XIII des Potsdamer Abkommens als vielmehr die Umstände seiner Realisierung gaben ganz offensichtlich Anstoß zu der jetzt allgemein geteilten Ansicht, dass massenhafte Zwangsausweisungen sowohl die gut-nachbarschaftlichen Verpflichtungen aus den zwischenstaatlichen Verhältnissen wie auch die Minderheiten- und Menschenrechte verletzen und deshalb verboten sind. Dieses Verbot ist allerdings noch nicht derart zu zwingendem Recht (ius cogens) erstarkt, dass es nicht durch vertragliche Verabredung zwischen zwei Staaten umgangen werden könnte.

Eine alte Begründung für die Zulässigkeit von Gebietsabtretungen und Zwangsausweisungen lag in der Bestrafung eines kriminellen Regimes wegen Verletzung fundamentaler Normen des Völkerrechts. Aber selbst im Falle des Iraks 1991 hat die UNO auf die Souveränität und territoriale Unantastbarkeit des geschlagenen Aggressors geachtet. Die Zerlegung Jugoslawiens in mehrere Staaten, von denen nur wenige aus eigenen Kräften lebensfähig sind, ist von verschiedenen völkerrechtlichen Merkwürdigkeiten begleitet, die dem Bestreben der UNO, die territoriale Integrität der Staaten zu erhalten, deutlich widersprechen.

In der Zwischenzeit hat die International Law Commission (ILC) sich mit der Frage der Verantwortlichkeit der Staaten für ihre internationalen Verbrechen auseinandergesetzt. In ihrem 1996 veröffentlichten Entwurf für eine Konvention zur Staatenverantwortlichkeit nimmt sie eindeutig Abstand von einer straf- und sanktionsrechtlichen Rechtfertigung von Zwangsausweisungen. Der Tenor ihrer Vorschläge beschränkt die Reparations- und Sanktionsforderungen des geschädigten Staates auf Maßnahmen, die in keinem Fall die Subsistenzmöglichkeiten der Bevölkerung oder die Würde des verbrecherischen Staates antasten (Art. 42 Abs. 3, 45 ILC-Entwurf). In Art. 50 des Entwurfes wird vor allem verboten:
...b) „äußerster ökonomischer oder politischer Zwang, um die territoriale oder politische Unabhängigkeit des Staates, der das internationale Vergehen begangen hat, zu gefährden;.... d) jegliche Maßnahme, die die grundlegenden Menschenrechte verletzt; oder e) jede andere Maßnahme im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts.“     

Damit hat sich die Kommission eindeutig gegen das Potsdamer Abkommen als Model für die Bestrafung verbrecherischer Staaten ausgesprochen, da mit ihr weder die Menschenrechte der unschuldigen Bevölkerung noch das Recht des Staates auf seine Existenz und seine territoriale Integrität angetastet werden dürfen. Dies ist ja auch das zentrale Argument gegen ökonomische Sanktionen bei Menschenrechtsverletzungen. Die zwölfjährigen ökonomischen Sanktionen gegen den Irak nach seiner Vertreibung aus Kuwait 1991 haben Schäden an der Zivilbevölkerung verursacht, die bei weitem außerhalb des Verhältnisses zu den vorgegebenen Zielen lagen# und den UN-Berichterstatter Marc Bossuyt zu der Feststellung zwangen: "Die Sanktionen gegen den Irak haben ein humanitäres Desaster verursacht, welches mit den schlimmsten Katastrophen der vergangenen Dekaden vergleichbar ist."# Ihre Völkerrechtswidrigkeit wird ungern thematisiert ist aber unbestreitbar.#

Die zentrale Frage ist, ob Staaten überhaupt für die Taten ihrer Regierungen und ihres Militärs bestraft werden können, ohne dass die Zivilbevölkerung nicht unverhältnismäßig in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie ist wohl zu verneinen. Es hat sich inzwischen die allgemeine Ansicht durchgesetzt, dass das Potsdamer Abkommen kein überzeugendes Model für die Bestrafung eines Staates in Zukunft mehr bietet. Demgegenüber haben sich die beiden Tribunale gegen Ex-Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) sowie der Internationale Strafgerichtshof (IGH) in Den Haag bei aller Problematik der dort ablaufenden Prozesse, als eine sehr viel überzeugendere Alternative der Bestrafung erwiesen. Sie haben das Nürnberger Modell individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit wieder aufgenommen und den Jahrzehnte langen vergeblichen Versuchen, eine allgemeine Internationale Strafgerichtsbarkeit für schwerste Völkerrechtsverbrechen zu errichten, zum Durchbruch verholfen. Der hartnäckige und rüde Widerstand der USA gegen ihr ursprünglich eigenstes Projekt spricht nicht dagegen, eher dafür, dass die individuelle Bestrafung der verantwortlichen Verbrecher, in welcher Position sie auch immer gehandelt haben, allen anderen Versuchen kollektiver Bestrafung überlegen ist. Nicht der Staat ist der Verbrecher, sondern die in seinem Namen Agierenden, ob Regierung oder Militär, sie sind für die Taten individuell verantwortlich und haftbar.

Abschluss einer Epoche

Das Potsdamer Abkommen war nicht als Friedensvertrag gedacht, nahm jedoch den Platz eines solchen schließlich ein, da ihm ausdrückliche Friedensverträge nicht folgten. Wenn einige seiner Versprechen und Ziele bis heute uneingelöst blieben, so ist das zum einen seiner sehr allgemeinen Formulierung und der mangelnden Instrumentalität geschuldet, vor allem aber dem sich wandelnden politischen Klima im „Kalten Krieg“. Seine völkerrechtliche Verbindlichkeit und seine Übereinstimmung mit dem damaligen Stand des Völkerrechts sind aber heute, 70 Jahre nach seinem Abschluss, nicht mehr ernstlich anzuzweifeln.
Dennoch markiert das Abkommen den Abschluss einer völkerrechtlichen Epoche, die von einer neuen Epoche unter der Herrschaft der UNO und ihrer Charta abgelöst wurde. Friedensregelungen mit Gebietsabtretungen und Bevölkerungsaustausch sind von da an nur noch in der kollektiven Form durch die UNO selbst oder mit ihrem Einverständnis möglich. Siegreichen Staaten sind derart tief in die territoriale Integrität und die Menschenrechte eingreifende Maßnahmen verwehrt. Zwar handelt es sich im Übergang vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen nur um den institutionellen Wechsel innerhalb eines schon 1919 errichteten kollektiven Sicherheitssystems. Dieser Wechsel zielt jedoch darauf, die Unantastbarkeit der Staaten und Individuen gerade wegen ihrer größeren Gefährdung und Verletzlichkeit weiter zu erhöhen. Mit seinen tiefen Einschnitten durch die Siegerstaaten in die territoriale und individuelle Selbstbestimmung des unterlegenen Volkes ist das Potsdamer Abkommen noch der Ausdruck des alten Völkerrechtsregimes der Vor-UNO-Zeit. Seitdem herrscht ein permanenter Kampf um den Schutz gerade schwacher und besiegter Staaten in einem von atomaren Großmächten dominierten Weltsystem. Dass dieser Schutz nur völkerrechtlicher Art ist, macht seine immer wieder sichtbare Schwäche aus, ist aber auf jeden Fall mehr, als die Zeit vor 1945 zu bieten hatte.


Der Text ist die überarbeitete und ergänzte Form eines Vortrages, den der Autor auf der Internationalen historischen Konferenz „Die Potsdamer Konferenz: Bedeutung und Wirkung für ein friedliches und sozial gerechtes Europa“ am 7./8. Mai 2005 in Potsdam gehalten hat.

Norman Paech, pensionierter Professor für öffentliches Recht (Verfassungs- und Völkerrecht) an der Universität Hamburg, ehemals Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP), Hamburger Bundestagsabgeordneter der LINKEN von 2005 bis 2009, www.norman-paech.de